Unsere Sicherheit: sie ist ein Geschenk. Unser Frieden: ein Wunder. Wo das dünne Eis der Zivilisation knackt und bricht, lauert Unmenschlichkeit aller Art. Wer hier eintritt, der betritt die Hölle. Und die Hölle: sie ist nie so weit entfernt, wie man glaubt.
Julya Rabinowich
Wien, 26. Februar 2022 | Wir sind verwöhnt: mit unserer Selbstüberschätzung, unserer Sicherheits-Sicherheit, in unserer Überheblichkeit, Krieg würde ja nur in weit entfernten Gebieten unter Halbwilden stattfinden. Wir glauben, im Herzen Europas könne uns nichts zustoßen. Wir glauben kraft eines geheimnisvollen magischen Bannringes verschont zu werden vor Eskalation und Gefahr. Die Stimmen, die vor Krieg warnten – so oft überhört, bis sie lächerlich schienen. Die Stimmen, die von der wachsenden Gefahr und der Destabilisierung warnten, die von Putin ausging – wurden einfach stummgedreht und sanft eingemummt in gute Geschäfte, in wärmespendende Energieversorgung, die uns davor bewahrte entweder in erneuerbare Energien massiv investieren oder die Konflikte um die Atomkraft lösen zu müssen, eingemummt in vielversprechende Einladungen, in dem berauschenden Gefühl, einmal an der Kaisertafel diverser Oligarchen mitspeisen zu dürfen.
Die Spannungen waren ja weit weg. Dachte man. Die Ukraine, das waren die da seitwärts. Die Finnen, die da oben. Und in der Mitte: wir. Wie es sich für den Nabel der Welt eben gehört. Ein wenig hybride Trollerei war zwar da, ein Hackerangriff dort. Finnland wusste schon lange, was sich jenseits der Grenzen zusammenbraute, Autorinnen wie Sofi Oksanen wurden nicht müde, davor zu warnen. Europa wähnte sich sicher. Vielleicht das Erbe des Gefühls, die Wiege der Aufklärung zu sein. Vielleicht Verdrängung. Geschossen wurde ja in Syrien, aber doch nicht hier.
Nein, der Krieg hat ein erschreckend klares Gesicht, und es hat sich gerade unmaskiert gezeigt. Der Krieg hat Begleiter, die Gewalt, Tod, Ohnmacht und Entsetzen heißen. Die Bilder dieser Weggfährten kennt man, man kennt die Ruinen, die blutverschmierten Gesichter, die stille Panik der Kinder, die im Bombenkeller kauern, die Tränen derer, die ihre Liebsten verloren haben, ihr Zuhause. Wieder sieht man Bilder weinender Frauen mit Kindern an der Hand, einen kleinen Koffer voller Erinnerungen hinter sich herziehend. Man sieht Männer, die ihre Kinder weinend verabschieden ohne zu wissen, ob man sich wiedersieht. Der Krieg wischt jedes Gefühl der Normalität beiseite und ersetzt es mit rohen Verbrechen. Das passiert nicht mit denen da unten, denen da seitwärts, denen da oben. Das kann auch mit uns passieren. Unsere Sicherheit: sie ist ein Geschenk. Unser Frieden: ein Wunder. Wo das dünne Eis der Zivilisation knackt und bricht, lauert Unmenschlichkeit aller Art. Wer hier eintritt, der betritt die Hölle. Und die Hölle: sie ist nie so weit entfernt, wie man glaubt.
Titelbild: APA Picturedesk