Pressestimmen zur Russland-Invasion:
Tag sechs der russischen Invasion in der Ukraine. Ein Überblick über die Pressestimmen.
Wien, 01. März 2022 |
“El País” (Madrid):
“Der Widerstand der Ukraine und insbesondere ihrer großen Städte gegen die russische Invasion ist ein erster Rückschlag für Putin, der auf einen Blitzkrieg setzte, bei dem die ukrainische Armee schnell überwunden und die Regierung von Wolodymyr Selenskij gestürzt würde. Genau das Gegenteil ist eingetreten, aber es ist zumindest positiv, dass die beiden Regierungen, die sich in diesem ungleichen Krieg gegenüberstehen, erste Gespräche führten und diese in den kommenden Tagen fortsetzen wollen. Moskau wollte einen einseitigen Waffenstillstand der Ukraine, der einer Kapitulation gleichgekommen wäre. Dass die Ukraine dies ablehnte zeigt, dass die Dinge für Putin schlecht laufen.
Die Dringlichkeitssitzung der UN-Vollversammlung ist Ausdruck der zunehmenden internationalen Isolation Putins. Er wird von seinesgleichen künftig als Ausgestoßener behandelt, wie es etwa der Atomdiktator Kim Jong Un oder der Attentäter-Prinz Mohammed bin Salman sind. Selbst das sonst gegenüber Russland so nachgiebige China äußert Unmut angesichts von Putins völliger Missachtung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine.”
“Neue Zürcher Zeitung”:
“Mit jedem Kriegstag scheint der Widerstandswille des ukrainischen Volkes weiter zuzunehmen. Das lässt einen langen Kriegsverlauf erwarten mit ständig wachsenden Opfern an Menschen und Material. Zwar verfügt Moskau über furchtbare Waffensysteme, mit denen ganze Städte zerstört und unendliches Leid angerichtet werden können. Doch deren Einsatz würde den Widerwillen im Westen, in der Ukraine und in Russland nur noch steigern und das Regime im Kreml weiter isolieren.
Am Sonntag spielte Putin zudem mit dem Schrecken eines möglichen Atomschlags. Doch auch ein solcher könnte keine Abkürzung zum Kriegsziel bedeuten, sondern die totale Zerstörung der Welt. Das ist selbst für einen kriegswütigen Putin keine rationale Option.
So bleibt Russland allem Anschein nach auf dem Pfad zu einem langen, qualvollen, selbstschädigenden Krieg. Außer dessen Führung kommt doch noch zur Räson und findet selbst einen Ausstieg. Hoffentlich bald.”
“de Volkskrant” (Amsterdam):
“Dass jetzt Tabus gebrochen werden, liegt daran, dass Putin getan hat, wovon die EU-Staats- und Regierungschefs dachten (oder hofften), dass er es niemals tun würde: einen umfassenden Krieg in Europa zu entfesseln. Ihre erste erschrockene Reaktion bestand in der Erkenntnis, dass damit die Stabilität ganz Europas in Gefahr gerät. (…) Den großen Worten über die EU als geopolitischem Akteur und Verweisen auf eine “strategische Autonomie” mussten nun Taten folgen. Die Frage ist, wie lange dieses Gefühl von Dringlichkeit anhalten wird. Die Erfahrung lehrt, dass Mitgliedstaaten zurückrudern, sobald die schlimmste Phase einer Krise vorüber ist.”
“Washington Post”:
“Die nuklearen Drohungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin in den vergangenen Tagen (…) sind Taktiken, die darauf abzielen, Angst zu machen und einzuschüchtern. Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten müssen Putins Drohgebärden mit Besonnenheit und Wachsamkeit begegnen. Aber jenseits der Rhetorik liegt eine zunehmend besorgniserregende Realität: Russlands Angriff auf die Ukraine hat die nukleare Rüstungskontrolle erneut zurückgeworfen und die Welt unsicherer gemacht. (…)
Sowohl Russland als auch die Vereinigten Staaten halten strategische Atomwaffen in Abschussbereitschaft, ein Relikt des Kalten Krieges. Aber die Risiken von Missgeschicken oder Fehleinschätzungen sind kein Relikt und nicht verschwunden. Putin hat einen Akt völliger Torheit begangen, indem er rücksichtslose Nuklearwaffendrohungen in die von ihm geschaffene explosive Mischung in der Ukraine einbrachte.”
“Telegraph” (London):
“Da Putin seine Invasion seit Monaten plante, ging man davon aus, dass er die russische Wirtschaft sanktionssicher gemacht hatte, indem er die Abhängigkeit vom Dollar verringerte und Goldvorräte anlegte. Ein großer Teil der Reserven befindet sich jedoch im Ausland, und die Reaktion des Westens war umfangreicher und besser koordiniert, als es Moskau wahrscheinlich vorausgesehen hat.
Bestimmte energiebezogene Transaktionen werden jedoch fortgesetzt. Russland erzielt immer noch Einnahmen aus dem Verkauf von Gas an Europa, die reduziert werden müssen, wenn der Schmerz verstärkt werden soll. Doch Länder wie Deutschland und Italien sind angesichts ihrer Abhängigkeit von russischer Energie nur ungern bereit, eine Beschränkung der Liefermengen hinzunehmen. Nichtsdestotrotz entwickelt sich dies schnell zu einer wirtschaftlichen Katastrophe für Russland, die einige der bekanntesten Geschäftsleute des Landes dazu veranlasst hat, Putins Vorgehen in Frage zu stellen.”
“De Standaard” (Brüssel):
“Dass Ukrainer anders als Syrer, Iraker oder Afghanen empfangen werden, ist nachvollziehbar. Ihr Land grenzt an die EU, wir betrachten sie als europäische Mitbürger. Ihr Leid ist leichter zu verstehen, sie wecken mehr Empathie als Menschen, die Tausende von Kilometern entfernt in komplexe Konflikte verwickelt sind. (…)
Dennoch ist der scharfe Kontrast auffallend. Auch die Syrer flohen vor einem blutigen Krieg, auch sie wurden von einem grausamen Diktator unterdrückt und suchten Zuflucht in einem stabilen und sicheren Land. Und auch die Afghanen sind geflohen, weil ihr Land von Gewalt zerrissen wurde und weil die Menschenrechte massiv verletzt wurden. Es ist verständlich, dass die Menschen mehr Empathie für diejenigen empfinden, die ihnen ähnlicher sind. Aber es ist auch ungerecht. Jeder, der vor einem Krieg flieht, sehnt sich nach einem warmen und freundlichen Empfang.”
“Nepszava” (Budapest):
“Die Lage wäre (für Moskau) leichter, wenn sich die ursprünglichen Ziele zumindest teilweise erreichen ließen – dann könnte man sagen: na, wir haben gewonnen, wir können wieder nach Hause gehen. Das Problem ist nur, dass eine russlandfreundliche Regierung in der Ukraine ohne russische Truppen keine zwei Tage im Amt bleiben würde. Für die Besatzung und Fremdsteuerung des zweitgrößten Landes in Europa wären hunderttausende Soldaten erforderlich, für seine Befriedung Jahre und Unmengen an Geld. In jederlei Hinsicht wäre dies ein teures Vergnügen. Die Sowjetunion zerbrach an den wesentlich geringeren Kosten ihres Krieges in Afghanistan. Putin kann wiederum nicht darauf verzichten, jemanden eigenen an die Stelle von Selenskyj zu setzen. Denn sonst würde sich vor aller Welt offenbaren, auf welch schwachen Beinen seine Macht steht.”
“Le Parisien” (Paris):
“Seit dem Start der Offensive gegen die Ukraine läuft nichts so, wie Wladimir Putin es vorgesehen hatte. Er behält einen starken militärischen Druck, vor allem auf das eingekreiste Kiew, aufrecht, aber das Szenario der Ereignisse, die wir seit einer Woche erleben, entspricht nicht dem, was er geplant hatte. Wie 2014 auf der Krim strebte er eine Blitzinvasion der Ukraine an mit einem schnellen Sturz der Hauptstadt, was das Installieren einer Marionettenregierung ermöglicht hätte. Der starke Widerstand der Bevölkerung aber hat seine Pläne verlangsamt und durchkreuzt. Die Moral der Moskauer Truppen soll mäßig sein. Für die Russen ist es nicht selbstverständlich, Krieg gegen die Ukrainer zu führen.”
“Wladimir Putin hatten auch nicht mit einer so entschiedenen und geschlossenen Reaktion der Europäer gerechnet. (…) Und Europa ist noch weiter gegangen mit der Entscheidung der 27, tödliche Waffen an die Ukraine zu liefern. (…) Mit dieser Krise spielt Brüssel erstmals eine geopolitische Rolle. (…) Putin hat den 27 nicht nur erlaubt, ihren Zusammenhalt wiederzufinden, aber ihm ist es auch gelungen, die NATO aufzuwecken, die (Frankreichs Präsident) Emmanuel Macron vor zwei Jahren noch für “hirntot” befand.”
(apa/bf)
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