Kommentar
Die New York Times zeigte das Bild einer toten ukrainischen Familie. Soll man, darf man einem Millionenpublikum Fotos von Kriegsopfern zeigen? Die Frage ist so alt wie die Pressefotografie. Wie sollen wir sie heute beantworten?
Thomas Walach
Wien, 07. März 2022 | Vier Menschen liegen auf der Straße, Mutter, Vater, ihre zwei Kinder. Bis auf den Mann sind alle tot. Eines der Kinder hat einen Rucksack dabei, das andere, ein schmaler Teenager mit Brille, einen Rollkoffer.
Die tote ukrainische Familie ist auf der Startseite der New York Times anzuschauen. Soll man das, darf man das zeigen? Die Diskussion ist so alt wie die Pressefotografie, aber sie hat ihre Konjunkturen. Unsere Zeit ist in mancher Hinsicht empfindlicher als andere. Wenn die wichtigste Zeitung der Welt Tote herzeigt, dann, weil es ihr wichtig ist. Nicht auszudenken, wenn Verwandte oder Freunde der Familie das Foto sehen!
Die Würde der Toten
Kritik wurde laut. Die Würde der Toten würde durch das Bild verletzt, sagen viele. Aber was genau das sei, die „Würde der Toten“ oder wodurch sie verletzt würde, können sie nicht sagen. Es ist ein Bauchgefühl, kein analytischer Befund. Das macht es nicht mehr oder weniger wahr.
Man müsse Respekt zeigen, fordern andere. Aber gerade jene Toten, die wir besonders verehren, zeigen wir öffentlich: Ungezählte Totenmasken liegen in Museen, einbalsamierte Leichname von Heiligen, katholischen wie kommunistischen, werden in Glassärgen zur Verehrung vorgezeigt. Die toten Flüchtlinge hat freilich niemand drapiert. Wenn sie geehrt werden, dann entweder durch den Betrachter oder gar nicht.
Man müsse Kinder und Jugendliche vor dem Anblick schützen, fordern die nächsten. Aber Kinder, das ist jedenfalls meine Erfahrung, haben mit dem Anblick von Toten viel weniger Schwierigkeiten als viele Erwachsene, die das Tabu Tod bereits verinnerlicht haben.
Wir, die wir das Glück haben, den Tod nicht als Teil des Alltags erleben zu müssen, wollen am liebsten gar nichts von ihm wissen. Er verschwindet aber nicht, wenn wir nicht hinschauen. Teenager sollen in der Zeitung keine Toten sehen, doch wir schicken sie unter Androhung von Gefängnis zum Zivildienst, wo sie dem Tod oft ganz unmittelbar begegnen. Es dauert, bis er alltäglich wird. Nie habe ich erlebt, dass ein junger Mensch nach seinem ersten Toten reden wollte. Aber ich weiß, dass der Anblick vor dem Einschlafen wiederkehrt.
Der Tod schockiert die meisten Menschen umso mehr, als sie von ihm entwöhnt sind. Ich erinnere mich an den entsetzten Blick des Postboten, dem wir eine Tote im Stiegenhaus zeigten, um herauszufinden, hinter welcher Tür sie gelebt hatte – die Familie musste verständigt werden. Oder das entgeisterte Starren der Umstehenden, als uns Feuerwehrtaucher die Leichen eines jungen Paares vor die Füße legten. Sie hatten das gleiche Totengesicht wie die Leute auf dem Foto.
Ich habe solche Gesichter als Rettungswagenfahrer oft gesehen – wächsern, ohne Muskelspannung. So sieht der Tod aus, wenn er noch jung ist. Schon Erich Maria Remarque hat die Gesichter seiner gefallenen Kameraden so gesehen.
Der unsichtbare Tod auf CNN
Es sind nur Tote. So denken bei uns nicht viele. Doch auf dem Bild aus der Ukraine sieht man, wie ein Mann unmittelbar hinter der Leiche des Teenagers vorbeigeht. Er schaut nicht hin. Er bleibt nicht stehen. Wer an einer Leiche etwas Besonderes findet, darf sich glücklich schätzen.
Soll man die Unschuld der Glücklichen ankratzen und ihnen Bilder von Toten zeigen? Seit dem Vietnamkrieg ist das unüblich geworden. Die Bilder der Gräuel dieses Krieges waren schlecht für die Moral an der Heimatfront. Also beschloss das US-Militär, solche Bilder künftig nicht mehr zuzulassen. Seitdem werden uns Kriege als distanzierte, entmenschlichte Vorgänge präsentiert. Von „Operationen“ ist da die Rede und von „chirurgischen Schlägen“.
Mit der Präzision des Tötens ist es oft nicht weit her, wie die Bombenangriffe der NATO auf Serbien bewiesen. Das Einzige, was die Öffentlichkeit noch weniger verkraftet als die Bilder von Toten, sind die Toten der eigenen Seite. Um der Öffentlichkeit die Bilder eigener Verluste zu ersparen, flogen die NATO-Bomber zu hoch für die serbische Luftabwehr, zu hoch aber auch, um militärische Ziele genau zu treffen.
Der Golfkrieg 1991 war der erste Krieg, der einem globalen Publikum täglich im Fernsehen präsentiert wurde. Die verkohlten Leichen der irakischen Soldaten auf dem „Highway of Death“ zeigte CNN nicht – konnte es gar nicht zeigen. Denn Reporter sind seit dem Vietnamkrieg eingebettet in die Propagandamaschine der Armeen. Statt der Leichen sahen wir also Bilder der Zielkameras von Flugzeugen hoch über dem Geschehen.
Der Krieg wurde appetitlicher, distanzierter. Das Ergebnis des Krieges – Menschen werden in Leichen verwandelt – mussten wir nicht mehr anschauen. Eine Erleichterung. Eine Erleichterung auch für jene, die Krieg führen möchten, denn: Bilder vom Krieg sind schlecht für den Krieg.
Anmerkung: Obwohl ich im Text dafür argumentiere, das Bild zu zeigen, habe ich es hier verfremdet – weil es für das Vertändnis des Textes nicht nötig ist, jedes Detail zu erkennen.
Titelbild: Screenshot NYT, ZackZack