Heftige Proteste
Ein geleakter Urteilsentwurf schlägt hohe Wellen in den USA: Der Supreme Court steht möglicherweise davor, das landesweite Recht auf Abtreibung aufzuheben. Das sorgte für starke Reaktionen.
Washington, 04. Mai 2022 | Ein an das Medium “Politico” geleakter Urteilsentwurf des US Supreme Court sorgte am Dienstag für Entsetzen. Das 98-seitige Dokument datiert auf Anfang Februar ist vom Supreme Court mittlerweile als echt bestätigt worden. Die Bedeutung seines Inhalts ist brisant: Das US-Abtreibungsgesetz könnte gekippt werden.
Der Supreme Court hat in dem Urteilsentwurf dafür gestimmt, das historische Grundsatzurteil Roe v. Wade aus dem Jahr 1973 – das seit fast 50 Jahren geltendes Recht ist – zu Fall zu bringen.
Bevölkerungs-Mehrheit für Abtreibungsrecht
Würde dieser Urteilsentwurf durchgehen, würde das bedeuten, dass es in Zukunft kein landesweites Grundrecht auf Abtreibung mehr geben würde und einzelne Bundesstaaten selbst entscheiden könnten, ob sie Schwangerschaftsabbrüche stark einschränken oder ganz verbieten. Ausgangspunkt des jetzigen Falles ist ein Vorstoß des US-Staates Mississippi, Abtreibungen einzuschränken.
Das geleakte Dokument führte zu heftigen Protesten in den USA. Am Dienstag versammelten sich Abtreibungsgegner und -befürworter vor dem Gericht in Washington. Einer Umfrage des Pew Research Center von 2021 zufolge sprechen sich 59 Prozent der US-Bürgerinnen und Bürger für ein Recht auf Abtreibung in den meisten Fällen aus, während 39 Prozent dagegen sind.
Die demokratische Senatorin Elizabeth Warren machte ihrem Ärger Luft: “Ich habe eine Welt gesehen, in der Abtreibung illegal ist. Wir werden nicht dorthin zurückkehren – nicht jetzt, nie.” Es werden nicht die wohlhabenden Frauen sein, die den Preis zahlen werden müssen – denn sie können einfach dorthin fliegen, wo Abtreibung erlaubt ist – , sondern arme Frauen, migrantische Frauen und Opfer von Missbrauch und Inzest, so Warren.
I am angry because an extremist Supreme Court thinks they can impose their extremist views on all of the women of this country and they are wrong.
I have seen the world where abortion is illegal. We’re not going back—not now, not ever. pic.twitter.com/5lE8rCQz5U
— Elizabeth Warren (@SenWarren) May 3, 2022
Keine Ausnahmen für Vergewaltigung
“Roe v. Wade” wurde im Jahr 1973 verkündet während der Amtszeit des republikanischen Präsident Richard Nixon. Das Urteil ermöglichte landesweit Abtreibungen bis zur Lebensfähigkeit des Fötus, also etwa bis zur 24. Schwangerschaftswoche. Damals leitete das Oberste Gericht ein USA-weites Recht auf Abtreibung aus dem Recht von Frauen auf Privatsphäre ab. Die Grundsatzentscheidung ist seitdem formaljuristisch wie auch inhaltlich und politisch umstritten wie kaum ein anderes Urteil des Supreme Court.
Zahlreiche US-Staaten haben angekündigt, nach einer Abschaffung von “Roe v. Wade” die Abtreibung stark einzuschränken. Einzelne haben bereits Landesgesetze erlassen wie den umstrittenen “Heartbeat Act” in Texas. Dieses verbietet eine Abtreibung, sobald der Herzschlag des Fötus nachgewiesen werden kann – meist etwa nach sechs Wochen. Ausnahmen für Schwangerschaften als Folge von Vergewaltigungen und Inzest sind nicht vorgesehen. Andererseits haben mehr als ein Dutzend Bundesstaaten Gesetze erlassen, die das Recht auf Abtreibung schützen.
Biden für ein Recht auf Abtreibung
US-Präsident Joe Biden kündigte an, sich gegen eine Einschränkung des Abtreibungsrechts einzusetzen. Er erklärte am Dienstag, dass das Recht von Frauen auf Wahlfreiheit von grundlegender Bedeutung sei und es ein landesweites Gesetz brauche, das das Recht auf Abtreibung schütze und er sich dafür einsetzen wolle.
Doch Bidens Demokraten haben in den Kongressen aktuell keine große Mehrheit und können solch ein Gesetz nicht einfach so durchbringen. Allerdings werden in den USA Anfang November ein Drittel des Senats und das gesamte Repräsentantenhaus neu gewählt.
Auch der ehemalige US-Präsident Barack Obama warnt vor einem Ende des Rechts auf Abtreibung in den USA: “Die Folgen dieser Entscheidung wären ein Schlag nicht nur für die Frauen, sondern für alle, die glauben, dass es in einer freien Gesellschaft Grenzen für den Eingriff des Staates in unser Privatleben gibt”, so Obama am Dienstag in einer Mitteilung.
Die Vereinten Nationen (UNO) betonten am Dienstag ebenfalls wie wichtig, die weibliche Selbstbestimmung sei: „Der Generalsekretär (Anm.: Antonio Guterres) ist seit Langem der Ansicht, dass sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte die Grundlage für Wahlfreiheit, Ermächtigung und Gleichberechtigung von Frauen und Mädchen sind“, sagte Sprecher Farhan Haq in New York. Ohne die Gleichstellung der Hälfte der globalen Bevölkerung würde die Welt als Ganzes verlieren.
Supreme Court empört über Leak
Sechs der neun Richter des Supreme Courts sind Konservative, allein drei von ihnen wurden während der Amtszeit des republikanischen Präsidenten Donald Trump ernannt, zuletzt 2020 Amy Coney Barrett nach dem Tod der liberalen Richterin Ruth Bader Ginsburg.
Die Veröffentlichung des eigentlich streng vertraulichen Entwurfs beschädigt Experten zufolge massiv den Ruf des Supreme Court. Das Gericht ist empört über das geleakte Dokument, Ermittlungen seien eingeleitet worden. Die Veröffentlichung des endgültigen Urteils, das dann auch juristisch gültig ist, wird bis Ende Juni erwartet. Bis dahin können die Mitglieder des Obersten Gerichtshofs theoretisch auch ihre Meinung ändern.
(sm)
Titelbild: APA Picturedesk