Erstmals Bilder aus Umerziehungslager in China
Folterstühle, Schießbefehle – es sind schockierende Erkenntnisse aus chinesischen Internierungslagern, die ein Bund aus mehreren internationalen Medien am Dienstag ans Tageslicht brachte. Die “Xinjiang Police Files”, ein noch nie dagewesener Datenleak aus dem Sicherheitsapparat Chinas, zeigen, wie das Regime mit der Minderheit der Uiguren umgeht.
Xinjiang, 24. Mai 2022 | “Es ist wie ein Fenster in einen Polizeistaat. So etwas haben wir noch nie gesehen”, beschreibt der deutsche Anthropologe und China-Experte Adrian Zenz den Berg aus Daten, der ihm von einer anonymen Quelle zugespielt wurde. Die “Xinjiang Police Files”, nach Angaben des Forschers stammen die geheimen Dokumente und Aufnahmen von Computersystemen des Büros für Öffentliche Sicherheit in den Regierungsbezirken Ili und Kashgar in der Region Xinjiang, demonstrieren das Ausmaß der Verfolgung und Masseninternierung der Uiguren und anderer muslimischer Minderheiten in der nordwestchinesischen Region.
Die Veröffentlichung, an der unter anderem das deutsche Nachrichtenmagazin “Der Spiegel”, der Bayerische Rundfunk, die britische BBC, USA Today und die französische Zeitung “Le Monde” beteiligt sind, fällt zusammen mit dem kontroversen, laufenden China-Besuch der UNO-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet, die auch nach Xinjiang reisen will.
Bilder aus Lager zeigen Folterstuhl
Auch Transkripte von Reden hoher Parteifunktionäre zum Umgang mit Uiguren befinden sich demnach in den Unterlagen. Der frühere Parteichef Chen Quanguo habe 2018 in einer Rede einen Schießbefehl bei der Flucht von Häftlingen erlassen: “Erst töten, dann melden.” Ein Foto zeige einen Häftling in einem sogenannten “Tigerstuhl”, der seine Arme fixiere und auch zur Folter benutzt werde, berichtete der “Spiegel”. Ein anderes sei von einem Insassen mit freiem Oberkörper, dessen Brust und Rücken “sichtbare Spuren von Gewalteinwirkung” zeigten. Einem Häftling mit gefesselten Händen und Beinen war auf einem Bild eine schwarze Kapuze über den Kopf gezogen worden.
BREAKING: huge trove of files obtained by hacking into Xinjiang police / re-education camp computers contain first-ever image material from inside camps, reveal Chen Quanguo issuing shoot-to-kill orders, Xi Jinping demanding new camps because existing ones are overcrowded. 🧵 pic.twitter.com/6K19Wxf0Lx
— Adrian Zenz (@adrianzenz) May 24, 2022
Die Bilder von 2018 stammten aus einem Umerziehungslager in Tekes westlich von Ürümqi und seien Teil der mehr als zehn Gigabyte umfassenden Dateien, heißt es im “Spiegel”-Bericht. Weitere Fotos würden fast 2.900 Inhaftierte zeigen: Die Jüngste damals 15 Jahre alt, die Älteste 73 Jahre. Ein 18-Jähriger sei wegen eines zweiwöchigen Trainings in einem Fitnesscenter inhaftiert und “wegen Vorbereitung einer terroristischen Handlung” zu zwölf Jahren verurteilt worden.
China ortet “anti-chinesische Kräfte” hinter Veröffentlichung
Die Enthüllungen widersprechen offiziellen chinesischen Beteuerungen, dass es sich bei den Lagern um “Fortbildungseinrichtungen” handle, die freiwillig besucht würden. Die chinesische Führung sieht hingegen “anti-chinesische Kräfte” hinter der Veröffentlichung. “Gerüchte und Lügen zu verbreiten, kann die Welt nicht täuschen und die Tatsache nicht verdecken, dass Xinjiang eine friedliche, wohlhabende Gesellschaft und eine blühende Wirtschaft hat, und die Menschen in Frieden und Glück leben und arbeiten”, sagte Außenamtssprecher Wang Wenbin vor der Presse in Peking.
In Xinjiang sind nach Angaben von Menschenrechtlern Hunderttausende in Umerziehungslager gesteckt worden. Chinas Führung wirft Uiguren in der Region Separatismus, Extremismus und Terrorismus vor, während sich die muslimische Minderheit politisch, religiös und kulturell unterdrückt fühlt. Nach ihrer Machtübernahme 1949 hatten die Kommunisten das ehemalige Ostturkestan der Volksrepublik einverleibt.
Internationale Kritik: “Bild des Schreckens”
Die Veröffentlichung löste auch im Ausland scharfe Kritik aus. Die neuen Datenlecks “entlarven die chinesische Propaganda und offenbaren ein Bild des Schreckens”, sagte die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestages, Renata Alt (FDP). Das Ziel Chinas sei es, die Kultur, Religion und ethnische Identität der Uiguren auszumerzen. Ein ganzes Volk werde dafür pauschal des Terrorismus beschuldigt. “China muss für diese Gräueltaten zur Rechenschaft gezogen werden”, forderte Alt in Berlin.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) verlangte eine transparente Aufklärung der Vorwürfe im Zusammenhang mit Enthüllungen. Bei einer einstündigen Videokonferenz mit ihrem chinesischen Amtskollegen Wang Yi habe die Ministerin am Dienstag “auch die schockierenden Berichte und neuen Dokumentationen über schwerste Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang” angesprochen, teilte ein Sprecher des Auswärtigen Amts in Berlin mit. Die Menschenrechte seien ein elementarer Bestandteil der internationalen Ordnung, für deren Schutz sich Deutschland weltweit einsetze.
Grüne Menschenrechts-Sprecherin fordert schärfere Sanktionen
In Österreich zeigte sich die außen- und menschenrechtspolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, entsetzt: Das Ausmaß an Menschenrechtsverletzungen gegenüber Uigurinnen und Uiguren, das sich in den veröffentlichten Dokumenten zeigt, sei “erschreckend”. Sie verlangte in einer Aussendung “entschiedene diplomatische Reaktionen sowohl im Rahmen der Vereinten Nationen, wie auch auf europäischer und nationalstaatlicher Ebene. Angesichts der Deutlichkeit der Menschenrechtsverletzungen ist auf EU-Ebene eine Verschärfung der Sanktionen zu verhandeln.”
Bei einem Treffen mit der UNO-Menschenrechtskommissarin Bachelet am Vortag in Guangzhou in Südchina lobte hingegen Außenminister Wang Yi die Bemühungen seines Landes zum Schutz der Menschenrechte. China habe den Schutz der Rechte ethnischer Minderheiten “zu einem wichtigen Teil seiner Arbeit gemacht”, zitierte ihn das Ministerium.
(apa/mst)
Titelbild: APA Picturedesk