Erstmals seit Kriegsbeginn hat Wolodymyr Selenskyj die Region Kiew verlassen. Bei seinem Besuch in der Region Charkiw entließ er den Geheimdienstchef. Die ukrainischen Truppen geraten währenddessen immer mehr in Bedrängnis.
Kiew, 30. Mai 2022 | Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat nach eigenen Angaben den Geheimdienstchef der ostukrainischen Stadt Charkiw entlassen. Er habe festgestellt, dass dieser sich von Beginn des russischen Angriffskriegs an nicht um die Verteidigung der Stadt gekümmert habe, “sondern nur an sich selbst dachte”, sagte Selenskyj am Sonntagabend in seiner täglichen Videoansprache. Welche Motive dahinter standen, würden nun die Strafverfolgungsbehörden untersuchen.
„Verräter“
„Ich habe nicht die Zeit, mich mit allen Verrätern zu befassen, aber sie werden nach und nach alle bestraft werden“, hatte Selenskyj noch im April gemeint. Damals hatte er nach eigenen Angaben zwei hochrangige Mitglieder des Sicherheitsdienstes entlassen. Wie er damals in einer Videobotschaft erklärte, handelte es sich dabei um den Gesamtleiter der inneren Sicherheit sowie den Leiter der Zweigstelle der Behörde in der Region Cherson.
Der Präsident hatte am Sonntag nun erstmals seit der russischen Invasion der Ukraine am 24. Februar den Osten seines Landes besucht. Sein Büro veröffentlichte im Messengerdienst Telegram ein Video, das Selenskyj mit einer kugelsicheren Weste bei der Besichtigung von zerstörten Gebäuden in Charkiw und Umgebung zeigte.
„Feind rückt ein“
Im Donbass im Osten der Ukraine rücken nach ukrainischen Angaben russische Truppen weiter in der strategisch wichtigen Stadt Sjewjerodonezk vor. Der Gouverneur von Luhansk, Serhij Gajdaj, sprach am Montag von sehr heftigen Kämpfen mit starkem Beschuss, bei dem zwei Zivilisten getötet und fünf verletzt worden seien. “Leider haben wir enttäuschende Nachrichten, der Feind rückt in die Stadt ein”, sagte Gajdaj im staatlichen Fernsehen. Die Gas- und Wasserversorgung der Stadt mit normalerweise rund 100.000 Einwohnern sei unterbrochen. Sjewjerodonezk ist die größte Stadt im Donbass, die von der Ukraine noch gehalten wird.
Die russischen Truppen dringen in Sjewjerodonezk von den Außenbezirken weiter in der Stadt vor, wie Gouverneur Gajdaj erläuterte. Die Nachbarstadt Lyssytschansk sei weiter unter ukrainischer Kontrolle, sagte Gajdaj. Dort liefen Evakuierungen. Die Ukraine sei weiter in der Lage, beide Städte täglich mit humanitärer Hilfe zu versorgen. Die Hauptstraße zwischen den beiden Städten liege zwar unter Beschuss, sei aber nicht blockiert. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj berichtete, rund 90 Prozent der Gebäude von Sjewjerodonezk seien beschädigt, mehr als zwei Drittel der Wohnhäuser zerstört. “Sjewjerodonezk einzunehmen, ist die Hauptaufgabe der Besetzer”, sagte Selenskyj in seiner nächtlichen Video-Ansprache. “Wir tun alles, was wir können, um den Vorstoß aufzuhalten.”
Lawrow: „Befreiung“
In den vergangenen Tagen haben die russischen Streitkräfte im Osten der Ukraine immer wieder Erfolge vorweisen können. Für die ukrainischen Truppen wird die Lage dagegen immer schwieriger. Russlands Außenminister Sergej Lawrow nannte die Einnahme des Donbass eine “bedingungslose Priorität” für sein Land und sprach dabei von einer Befreiung. Russland erkenne die separatistischen Donbass-Regionen Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten an, sagte Lawrow dem französischen Sender TF1 einer Meldung der Nachrichtenagentur RIA zufolge. Die anderen Teile der Ukraine sollten selbst über ihre Zukunft entscheiden.
(apa/red)
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