Dienstag, Oktober 8, 2024

Skylla & Charybdis: Stand-by

Die Kolumne von Julya Rabinowich: Heute über den gereizten selbsternannten Zar, der nicht nur Leib und Leben in der Ukraine bedroht, sondern auch den Wohlstand derer, die sich allzu gut an diesen Wohlstand gewöhnt haben.

Julya Rabinowich

Wien, 16. Juli 2022 | Ein Fuß in gelbem Söckchen. Ein Kinderbuggy. Sommerzeit. Es könnte der Beginn einer harmlosen Geschichte sein, ein Badeausflug, ein Einkaufstrip vielleicht. Aber es ist das Ende einer ganz anderen Geschichte, einer kleinen grausamen Geschichte aus einem großen grausamen Krieg.

Momentaufnahme. Eingefrorener Leidensaugenblick. Zerstörung in Stand-by. Bald wird das Blut, das um den umgestürzten Kinderwagen zu sehen ist, abgewaschen sein. Der abgetrennte Fuß mit gelbem Söckchen weggetragen. Das Bild, entstanden in der Ukraine nach unzähligen Raketenangriffen auf zivile Bevölkerung, wird in der Flut anderer schrecklicher Bilder verschwinden. Man wird vergessen.

Vergessen und Wohlstand

Man vergisst immer. Die Nachrichten sind voll von solchen Bildern, von solchen Schicksalsschlägen. Sie verdrängen sich gegenseitig, sie überlappen sich, sie bleiben nicht lange haften: weil es so viele Bilder sind und weil das Bewusstsein diese Bilder schlecht aushält. Die unbekannte Mutter, die an diesem Tag ihren Fuß und ihr Kind verlor, wird nur ein anderer Name in einer langen Liste kollateraler Schäden sein. Ihr Schicksal hieß Wladimir Putin.

Während in der Ukraine also weiter gemordet, vernichtet, vergewaltigt wird, machen sich bekannte Menschen in Deutschland darüber Sorgen, dass Putin sein Gesicht verlieren könnte. Der gereizte selbsternannte Zar bedroht nicht nur Leib und Leben in der Ukraine, er bedroht auch den Wohlstand derer, die sich allzu gut an diesen Wohlstand gewöhnt haben. Dieser Wohlstand war so gut, dass er quasi ein Kulturgut wurde, das es zu schützen gilt.

Nicht unsere Probleme

Es war all die Jahre so herzerwärmend, sich mit Putin, dem Energiemeister, gut zu stellen. Da wartete man lieber zu, als die ersten Probebälle gerollt wurden – und es gegen Homosexuelle ging. War ja nur eine Minderheit und der Ofen so kuschlig warm. Dann ging es kritischen KünstlerInnen und JournalistInnen an den Kragen. Ja mei. Schon blöd, aber was sollte man schon tun? Dass Tschetschenien, Syrien schon gezeigt hatten, wie die russische Armee vorgeht, das schob man weg.

So wie das Bild mit dem umgekippten Kinderwagen. Schon der Stummfilm „Panzerkreuzer Potjemkin“ arbeitet mit diesem universalen Bild der Brutalität des Krieges. Eines Krieges, der sich gegen Zivilistinnen wendet, gegen Kleinkinder und ihre Mütter. Und immer noch finden sich AkteurInnen, die bereit sind, eine endlose Abfolge offener Briefe zu unterzeichnen, in der die Kapitulation vor dem selbsternannten Zaren nahegelegt wird. Eine Sublinie der Opfertäterumkehr dieses Krieges lautet, dass es in der Ukraine ja Nazis gebe. Gegen die vorgegangen werden müsse. Den Fans dieser Theorie sei nahegelegt, sich zu überlegen, was dann auch in Deutschland und Österreich geschehen könnte. Das Bild des Kinderwagens und des Frauenfußes sollte nicht verdrängt und nicht vergessen werden.

Titelbild: APA Picturedesk

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