Montag, Februar 10, 2025

Lisa-Maria lebt hier nicht mehr – Skylla & Charybdis

Skylla & Charybdis

Julya Rabinowich über den gestrigen Tag: Eine Zäsur.

Wien, 30. Juli 2022 | Ich würde am liebsten einen ganz anderen Text schreiben. Einen, der eine schreckliche Geschichte mit schönem Ende erzählt. Von einer Frau, die in eine beängstigende Notlage geraten war – weil sie ihren Beruf mit Leib und Seele und Überzeugung ausübte. Weil ihr Beruf ihre Berufung war. Weil sie Verantwortung übernahm. Weil sie der Wissenschaft vertraute. Und vermutlich auch dem Rechtsstaat. In Zeiten wie diesen, wenn Galgen auf Impfgegnerdemos beinahe eine Selbstverständlichkeit geworden sind, hatte sie als Ärztin gewagt, zu widersprechen, zu informieren, zu behandeln. Sie wurde gemobbt. Bedroht. Sie musste einen Sicherheitsdienst engagieren – auf eigene Kosten. Die Polizei, die sie wiederholt um Hilfe bat, wimmelte sie ab. Die Medien wurden auf ihren Fall aufmerksam.

Und jetzt würde meine Geschichte, so ich sie selbst bestimmen könnte, so weitergehen: durch Medienberichte breiter informiert, meldeten sich Zuständige bei ihr. Sie bekam Personenschutz und Beratung. Die Ärztekammer half ihr bei den Unsummen für den Sicherheitsdienst. Der Gesundheitsminister traf sich mit ihr. Und die florierende Praxis lief weiterhin florierend weiter, und wenn sie alle nicht gestorben sind, dann leben sie noch immer.

Aber ich kann keine solche Geschichte von Gerechtigkeit und Solidarität erzählen. Weil es sie nicht gibt. Dr. Lisa-Maria Kellermayr ist gestorben. In ihrer geschlossenen Praxis, den Konkurs im Nacken, die tobende Häme in Form eines anonymen gewaltbereiten Mobs im Hinterkopf. Monatelang hatte sie um Hilfe gerungen. Monatelang wurde sie abgeschasselt, lächerlich gemacht, im Stich gelassen. Von Polizei, von ihrer eigenen Kammer, von der Politik. War ja nur eine Frau, die widerständig und beruflich erfolgreich war und kein Mann in einer passenden Seilschaft.

Eine Obduktion wurde in diesem heiklen Fall nicht angeordnet. Tot ist ja tot. Der Gesundheitsminister, der zuvor das Ende der Coronamaßnahmen damit begründete, er wolle die entstandenen Gräben zuschütten, twitterte, dass er bestürzt sei. Der Präsident twitterte, sie hätte sich dazu entschieden, nicht mehr leben zu wollen. Er schloss mit dem Wunsch nach Zusammenhalt und hielt fest, dass jetzt alle bei Dr. Lisa-Maria Kellermayrs Hinterbliebenen seien. In Gedanken und so weiter. Schade, dass dieser Zusammenhalt davor nicht wirklich gegeben war. Traurig, dass zuvor keiner offiziell gesagt hatte, bei Dr. Kellermayr zu sein, die jetzt in ihrer geschlossenen Praxis gestorben ist. Nein. Dazu hat sie sich nicht entschieden. Dazu ist sie getrieben worden. Gleichzeitig ergoss sich ein weiterer Schwall an Lügen und Häme ins Netz, im Wunsch, der Verstorbenen nachzuspucken.

Eine kleine Menge Menschen versammelte sich beim Gesundheitsministerium zu einer Mahnwache und legte Blumen und Kerzen ab. Ein Pressesprecher des ministerialen Gräbenzuschütters kam und unterhielt sich mit ihnen. Heute, nicht in all der Zeit, in der Dr. Lisa-Maria Kellermayr darum ersucht hatte. Das alles geschah am selben Tag. Dieser Tag wird eine Zäsur darstellen.

Wie wird die Gesellschaft mit dem Geschehenen umgehen? Was wird sie fordern? Gibt es Folgen des unglaublichen politischen Versagens? Nimmt auch nur eine der involvierten zuständigen Personen den Hut – oder läuft alles weiter wie zuvor? Dr. Lisa-Maria Kellermayr war nicht die einzige Ärztin, die solcherart bedroht wurde. Innenministerium, Gesundheitsministerium und Ärztekammer könnten spät, aber wenigstens jetzt weitere mögliche Opfer schützen. Tun sie es nicht, ist der Rechtsstaat am Versagen. Tun sie es nicht, geht diese Geschichte noch dunkler weiter, als sie begonnen hat.

Titelbild: APA Picturedesk

Autor

  • Benedikt Faast

    Redakteur für Innenpolitik. Verfolgt so gut wie jedes Interview in der österreichischen Politlandschaft.

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