Skylla & Charybdis
Auf den Straßen demonstrieren todesmutige junge Frauen. Sie klettern auf Autos und schwenken das abgelegte Tuch, sie schreien ihre Forderung „Frau! Leben! Freiheit!“ in Städte hinaus. Sie riskieren viel, sie riskieren ihre Leben.
Julya Rabinowich
Wien, 08. Oktober 2022 | Angehörige bekommen ihre toten Verwandten zurück. Erschossen. Mit gebrochenen Nasen. Mit Folterspuren. Vergewaltigt. Mit eingeschlagenen Schädeln. Mit blutverkrustetem Haar, das an den Schultern klebt. Oft sind die Schultern schmal, das Haar lang, oft sind die Besitzerinnen der entstellten Gesichter, die Besitzer der durchsiebten Brust nicht älter als 16, nicht älter als 17 Jahre. Das Verbrechen, das sie begangen haben sollen: der Wunsch der jungen Frauen, ihr Haar nicht länger zwangsweise verhüllen zu müssen. Der Wunsch der jungen Männer, sich mit ihnen solidarisch zu zeigen. Der Wunsch aller nach Freiheit jenseits von staatsreligiösem Terror. Terror, den alte, rigide, extremistische Männer Frauen zugedacht haben, wie so oft mit besonderer Intensität jungen Frauen.
Mit Todesmut für die Freiheit
In widerwärtiger Verschiebung unterstellen sie, die lüsternen bigotten Alten, den Mädchen die Lust an der Prostitution, die Lust an der Nacktheit. Nur weil sie endlich gleichwertige Leben führen wollen, ohne Gefahr zu laufen, wegen eines schlecht sitzenden Hijabs ermordet zu werden, wie die junge Frau, deren Tod die Geburtsstunde des neuen Widerstands geworden ist: Mahsa Amini.Auf den Straßen demonstrieren todesmutige junge Frauen. Sie klettern auf Autos und schwenken das abgelegte Tuch, sie schreien ihre Forderung „Frau! Leben! Freiheit!“ in Städte hinaus, sie verjagen Sittenwächter aus Universitäten, trotzen dem Regime. Sie riskieren viel, sie riskieren ihre Leben. Dieses Regime wird in die Geschichte eingehen als jenes, das ihre eigene Jugend ermorden ließ, ihre Zukunft.
Respekt und Aufmerksamkeit
Die jungen Menschen brauchen weit mehr als unseren fernen Respekt. Sie brauchen die Aufmerksamkeit der Welt. Die Blicke müssen sich auf das richten, was gerade im Iran geschieht. Weder darf die Ukraine der einzige Fokus sein noch die mediokre Bundespräsidentenwahl, die mehr etwas von einem bizarren Schaubuden-Schauspiel zu bieten hat als von einer seriösen Auseinandersetzung mit Demokratie. Wenn wir nicht hinsehen, während 16-Jährige für ihre Überzeugung verschleppt, verletzt, entstellt, ermordet werden, haben sie die Stimme vergeblich erhoben. Wenn wir nicht hinsehen, wie mutige Demonstrierende in Ausübung ihres Menschenrechtes auf Meinungsfreiheit aus vorbeifahrenden Autos erschossen werden, verhallen ihre Schreie im Luftleeren. Die Welt muss hinsehen. Allen voran die Berichterstattenden. Allen voran die Weltpolitik.
Wahrheit gegen Propaganda
Es kann nicht sein, dass nur eine Handvoll engagierter, mittlerweile erschöpfter und vielleicht traumatisierter Frauen und Männer für die Verbreitung der grausamen Fakten zuständig sind. Aus dem Land, das sich unter der Glasglocke der Verbindungslosigkeit befindet, die die Abtrennung vom weltweiten Netz verursacht hat. Aus dem nur Bruchteile der begangenen Verbrechen den Weg ins Außen finden. Social-Media-Beiträge, die es noch irgendwie an die globale Öffentlichkeit schaffen, müssen weitergetragen werden. Die Propaganda des Regimes ist nicht widerspruchlos zu schlucken: Mahsa Amini ist nicht an Krankheit gestorben. Die Krankheit, an der sie starb, heißt extremistische Gewalt. Die Wahrheit ist der Weltgemeinschaft zumutbar.Titelbild: ZackZack