Donnerstag, Dezember 12, 2024

Über die Kunst, Ideale zu warten – Julya Rabinowich – Skylla & Charybdis

Julya Rabinowich – Skylla & Charybdis

Julya Rabinowich über russische Propaganda, Feindbilder und gratis nützliche Idioten.

Julya Rabinowich

Wien, 15. Oktober 2022 | Russlands Rückfall in finstere Zeiten, genau genommen sogar ein zartes Trippeln in Richtung noch finsterer Zeiten kann unmöglich unbemerkt geblieben sein. Die Kriegsverbrechen, begonnen in Tschetschenien, fortgeführt in Syrien und nochmals eingesetzt in der Ukraine sollten sich eigentlich schon weltweit herumgesprochen haben. Unzählige geflüchtete Frauen, die entsetzlichen Bericht über sexuelle Gewalt an Frauen und sogar an Kleinkindern erstatten, die dokumentierten Folterungen und Morde auf der einen Seite.

Wer immer noch Zweifel hegt: Es gibt jetzt auch eine Feststellung der UNO, dass sexuelle Gewalt als Kriegsstrategie eingesetzt wurde.

Wem das nicht reicht: Auf der anderen Seite braucht man sich nur russische Sendungen und Talkrunden anzusehen, von denen es im Netz doch einige mit Untertiteln zu finden gibt.

Was da zu hören ist, erinnert an Goebbels und übertrifft ihn teils sogar. Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, ein weißer alter Mann der Deluxe-Edition, segnet Waffen und verspricht den eingezogenen Rekruten, die es nicht mehr rechtzeitig aus dem Land rausgeschafft haben, einen sofortigen Aufstieg in den Märtyrerhimmel wie so ein klassischer Terroristenführer. Ob eine beeindruckende Zahl an Jungfrauen bei der Belohnung enthalten ist, weiß man nicht genau.

Atom-Drohung

Wem das noch keine Gänsehaut über das Rückgrat schickt: Nuklearer Krieg wird diskutiert. Offen. Er soll durch beständige Wiederholung etwas werden, an das man sich gewöhnen könnte. Diese Aussagen durchbrechen die Schallmauer jedes Sagbaren. Sie durchbrechen die Schallmauer aller Abmachung zivilisierter Staaten. Sie machen das Ungeheuerliche alltäglich, zu etwas, an dessen Ankündigung man sich gewöhnt. Das alles entfaltet sich ungeschönt und in besorgniserregender Klarheit, für alle zu sehen.

Was also verführt einige Linke dazu, ihr Feindbild Amerika um jeden Preis damit erhalten zu wollen, dass Russland immer noch als ein Staat wahrgenommen wird, der irgendwie auch nur irgendeine demokratische Normalität bietet? Ist es das Bedürfnis, an einstigen Idealen superkleben zu bleiben wie Aktivisten an der Autobahn? Oder das Verteidigen der eigenen Jugend und ihrer damaligen Entscheidungen? Das Fürchten einer brüchigen Identität? Das Zurückschrecken vor Umbau der Weltsicht? Warum wird nicht einmal der Kompromiss eingegangen, dass man mit beiden Supermächten unglücklich ist?

Propaganda-Schleier

Die Ausreden sind abenteuerlich, und ihr Impact in den sozialen Medien nicht zu unterschätzen. Wer russische Propaganda mitträgt, verteilt und legitimiert sie. Und hilft damit, weitere Kriegsverbrechen zu leugnen, Rechtsbrüche zu verschleiern. Diese Propaganda ist eine der angewandten Kriegsstrategien. Es gibt sicherlich bezahlte, aber auch genug gratis nützliche Idioten. Das mag für sie selbst tragisch sein, tragikomisch bei näherer Betrachtung, aber bitterernst in den Folgen.

Wer die Leichen in Butscha für Schauspieler, Fotobearbeitungen oder Opfer von friendly fire hält, und zwar alles das gleichzeitig, ist nicht nur ein nützlicher, sondern auch ein schreiend dummer Idiot, der den Opfern ins Gesicht spuckt. Wer mit strammen Rechtsextremen mitmarschiert (ja, wir hatten dieses Thema schon einmal in dieser Kolumne) ist ein nützlicher Idiot, der im schlimmsten Fall Rechtsextremen zur Macht verhilft, im weniger schlimmen zu Aufmerksamkeit.

Ich bin nicht bereit zu glauben, dass so viele, die sich als Linke definieren, nützliche Idioten eines Diktators und Freiheitsfeindes sein wollen. Und auch wenn eine kritische Rückschau und aktuelle Überprüfung der eigenen Überzeugung sehr schmerzhaft sein kann, bin ich überzeugt davon, dass reflektierte Positionen auch den Reflektierenden im Endeffekt mehr Gutes bringen als der momentane Schmerz, der entsteht, wenn Abwehrmechanismen einbrechen.

Titelbild: ZackZack

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