Samstag, Mai 4, 2024

Memory Lane – Skylla & Charybdis

Skylla & Charybdis

Julya Rabinowich nimmt uns mit auf einen Trip auf Memory Lane.

Julya Rabinowich

05. November 2022 | Die Autorin dieser Zeilen sitzt gerade in Berlin, mit Blick auf die einfahrenden Züge aus dem bodentiefen Fenster. Draußen dunkelt es, ein Mann mit zwei Dackeln geht im fallenden Laub der herbstlich eingefärbten Bäume spazieren. Die Hunde sind artig, sie folgen ihm, ohne die Leine zu spannen, die Nasen am Boden, auf der Suche nach aufregenden Gerüchen nach Fäulnis und toten Insekten. Irgendjemand schlägt in wilder Konsequenz seit über einer Stunde die Trommel. Es dunkelt, die Nacht fällt über die Lichter der Großstadt und schärft sie nach, der blutrote Streifen am Horizont hinter den Gleisen schwindet. Die Erinnerungen an ein anderes, früheres Berlin schwinden nicht, sie steigen empor wie Wasserblasen in dunklem Moor. Ich war hier, als die Mauer fiel.

Als zwei Welten einander berührten- in grenzenlosen Euphorie. Ich war hier, als das wilde Berlin der Achtziger dem sleeken Berlin der Neunziger und der Nuller wich. Manchmal begegnen mir hier Menschen auf der Straße, bei denen ich nicht sicher bin, ob das die sind, die damals mit mir an der Mauer gefeiert haben, ob das jene waren, mit denen ich in besetzten Häusern saß, jene, die mit mir auf Flohmärkten nach ausrangierten Pantherfleckenhosen suchten. Die Gesichter sind so viel älter geworden. Ich war hier: mit achtzehn. Mit fünfundzwanzig. Mit vierzig. Die Stadt wandelte sich, ich wandelte mich mit.

Irgendwie waren wir nie auf gleicher Sendespur, Berlin und ich. Berlin war wilder, war schneller, war kompromissloser als ich.  Das hatte durchaus Nachteile, aber auch gravierende Vorteile. Neue Freunde kamen, alte Freunde vergingen. Die damaligen Protagonisten leben zum Teil nicht mehr, das schnelle Berliner Leben ist manchmal zu schnell.

Ich sitze also jetzt in diesem Hotelzimmer, das mein Verlag für mich dankenswerterweise gebucht hat. Ich sehe auf den Bahnhof, alles scheint surreal, als ob die Matrix einen Umbau vorgenommen hätte. Meine allerersten Tage in Berlin waren Tage ohne Dach über dem Kopf. Ein Springen von Stadtteil zu Stadtteil. Vom Westen vordringend in den östlichen Bereich. Checkpoint Charlie stand noch. Jetzt wird die Mauer als Souvenir verkauft, gezähmt, zerkleinert, den Schrecken ausgehaucht. Wieviele von den Punks wohl noch am Leben sind, mit denen ich hier damals abhing?

Einer, der Benzin hieß, weil er ebensolchen zu trinken pflegte, wohl nicht mehr. Aber ich muss nicht nach Berlin blicken, wenn ich ein Stück Nekropolis sehen möchte, auch Wien hat Morbidität zu bieten, eine andere, eine verstohlenere, langsamere Morbidität, die nichts von der scharfkantigen, grell beleuchteten Todessehnsucht Berlins aufweist: eher ein langsames Verschwinden. Wie Martin Marek, alias Operator Spice, einer der ersten österreichischen Elektronikmusiker, mit seiner Musikmaschine, die verstummt ist, lange bevor er verstummte. Wenn ich nach Wien zurückkehre, ist Martin, ein Mensch, mit dem ich ein Stück meines Lebens teilte- in Noten, in Klängen, in Buchstaben und Worten- dieser Mensch wird nicht mehr sein. Gegangen zwei Tage vor Halloween, irgendwann in der Nacht zwischen Freitag und Samstag davongegeglitten in fremde Gebiete, vor denen wir uns fürchten, die wir alle irgendwann betreten werden. Dort, wo die Zeit aufhört.

Time, das war auch der Name seiner ersten Solo-CD. Die seine einzige blieb. Ein talentierter Mensch, ein schwieriger Mensch, ein zerstörerischer Mensch, der in allerersten Linie sich selbst vernichtet hatte, über Jahre hinweg. Und wir haben alle zugesehen. Hatten es probiert, auf heftigen Widerstand gestoßen und es aufgegeben. Haben es geschehen lassen. Wenn jemand gehen will, findet er einen Weg, no matter what. Martin hat sich etwas Zeit, time eben, gelassen, und hat dann die Tür zum Diesseits zugeschlagen. Ich sitze in Berlin, blicke in die Nacht, höre die fahrenden Züge, spüre Bremsspuren im Herzen. Wenn ihr einander wichtiges zu sagen habt: tut es. Nicht nur zu Weihnachten. Nicht nur zu Allerseelen. Wenn ihr jemanden zu umarmen habt: tut es. Nicht nur zum Geburtstag. Wenn ihr jemanden liebt, bereut es nicht. Es gibt nichts Wichtigeres.

Titelbild: ZackZack

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25 Kommentare

  1. Med ana schwoazzn dintn von h.c.

    Die wenigen Leser, in dieser Kolumne, werden im Gegensatz zu den anderen Foren verstehen, daß nicht Strache zitiert wurde.
    Ihre sehr persönliche Kritik an der Kolumnistin berührt mich als Außenstehender peinlich.
    Andererseits erinnern sie mich an Lisa Eckhart deren sprachlich sehr feine Klinge verletzend, faszinierend, durchtrennend und auch befreiend für ihre freiwillige Zuhörerschaft sein kann.
    Als Kolumnistin Kritik aus der Leserschaft zu erfahren bedingt natürlich auch, diese zu akzeptieren, gleich der Zuhörerschaft von Lisa Eckhart.

    Nachdenklich, passend zur allseits herbstlichen Stimmung, als Ansporn, eventuell für beide; Genug ist nicht genug. https://youtu.be/vEmzOXzJTpo

    • Es liegt mir fern, Julya Rabinovich zu verletzen. Aber sie schreibt eine Kolumne. Sie veröffentlicht ihre Meinung. Sie stellt sich damit der Kritik. Und die meine ist keine positive. Sie stößt sich am Stil ( ist holprig) , an der Deutung ( ist falsch) und an der Grammatik ( ist bescheiden). Ein Schriftsteller ist der Schönheit des Wortes und der Wirklichkeit der Welt verpflichtet, nicht seiner Ideologie. Wenn er schreibt, gehört selbige unter den Tisch, nicht in die Feder. Und das begreift Frau Rabinovich nicht.

      • Der Verweis auf Lisa Eckhart, sie steht für mich auf dieser sprachlich herausragenden Bewußtseinsebene eines Michel Friedman oder auch Peter Filzmaier‘s, sollte auch Bezug nehmen auf ihre fundierte Kritik. Auch auf den November, mit dem Bezug zur Kolumne, der offensichtlich aus Ihrem Tintenfass stammt!

        Ihre Auseinandersetzung dürfte schon länger und tiefergehend sein. Heute darauf aufmerksam geworden, bin zumindest ich, von der Intensität tatsächlich betroffen!

        Das ist keine Wertung, kenne weder Rabinowich‘s Werke, noch Ihre. Bedenken Sie vielleicht, daß sie sich nicht hinter einem Tintenfass verbirgt.

          • Absolut, wie konnte ich sie nur vergessen. Sprachliche Brillianz, gepaart mit diesem visionären, positiven Blick in die Zukunft!

        • Lieber Danilo, den sich mit ukrainischen Prostituierten im Koksrausch vergnügenden Herrn Friedman, würde ich an Ihrer Stelle nicht in einer sprachlich herausragenden Bewusstseinsebene verorten. Ausser Sie sind der Ansicht, dass selbige Substanzen dergleichen bewirken…
          Es muss immer heller werden!

          • Meine Bewunderung ist seinen Rhetorischen Fähigkeiten gezollt!
            Kenne die Skandale, die ihn aus der Medienwelt verschwinden ließen.
            In der deutschen Medienlandschaft hinterließ seine Absenz eine Lücke!

          • Lieber Helmut1931, ein bigotter Lump, auch wenn er über rhetorische Fähigkeiten verfügen sollte, bleibt trotzdem ein selbiger…
            Es muss immer heller werden!

  2. November

    Ein letztes Blatt hängt still am Baume.
    Fallen wird es balde sacht.
    Und grau und treu um Haus und Grab
    Hält der Nebel seine Wacht.

    Eine Glocke schlägt, als wollt` sie sagen:
    “Was bis heut noch nicht vollbracht,
    Das bleibt es nun, bleibt Traumgestalt,
    Es dräut ums Eck schon schwarz die Nacht.”

    So mag sie dräuen, schwarz und kalt.
    Nur stumm die Träne. Was hülfe klagen?
    Durch den Nebel dringt ein Licht.
    Ein Glück, mag sein, aus alten Tagen.

  3. Allerheiligen-Blues

    Chlorophyll im satten Grün der Hoffnung
    verwelkt sich nun im sanften Tod
    des Herbstes Blätterfallen macht betroffen
    vergilbt ins Braune, leuchtend gelb, auch rot
    und bringt die Farben vieler Sonnenbäder
    aus dem Sommer einer großen Liebe
    raschelnd mir im Nachhall wieder
    leise sterbend, kräuselnd und vom Wind getrieben.

    Wie sorglos war doch unsere Zeit
    deren Stimmen nun verstummten
    verloren, lustlos schreite ich im Leid
    durch totes Laub, vorbei das Summen
    Sirren und Geflirre in harzig reiner Luft
    kein Zirpen mehr, kein Vogel ruft…

    © AntonYm (der selbst noch nie in Berlin war)

      • Machen Sie sich nichts draus! Sie haben Nichts versäumt.
        So wie Konstantin Wecker singt, runter auf die Straßen und dann renn ich jungen Hunden hinterher, ist nicht vom Ort abhängig.
        Andererseits, in einer Stadt zu leben, bedeutet noch lange nicht, auch angekommen zu sein.
        Meine Städte für‘s Ankommen: Beirut, Valetta, Nizza, Istanbul und Wien.

        • Fahren Sie mal nach Timbuktu. Dann vergessen Sie die vorher genannten Städte. Wien ist sowieso keine Stadt, sondern eine Krankheit wie Lepra.

      • “Ich hab noch einen Koffer in Berlin”… man kann ihn dort belassen und leichten Gepäcks weiterreisen. 2011: Alles liegt weit auseinander, gewisse Orientierungslosigkeit in den Gesichtern, Neukölln noch am quirligsten, (für meinen Geschmack) zu viele “übrig gebliebene” Geschäfte mit Althippies, die Andenken oder sonstiges verkaufen, Konoppke am Prenzlauer Berg mit der besten Currywurst ever, zusammengefasst: eine leere Weite. Mich hat Berlin irgendwie runtergezogen…

  4. Schöne Zeilen passend zur für mich schönsten Zeit des Jahres. Jetzt spürt man die Vergänglichkeit und begreift, eigentlich gehts eh um nix und am Ende wartet auf jeden das selbe. Irgendwie sehr tröstlich.

  5. Jetzt im Herbst kann einer und einem die Melancholie ganz schön zusetzen.
    Meine Erfahrungen diesbezüglich gehen noch weiter zurück. Mit dem Mauerbau startete man ein Monat nach meiner Geburt. Wobei die Bilder auch Ende der 60er noch recht präsent waren. Gorbatschow und der Fall der Mauer ließen hoffen. Die erhoffte Freiheit und Euphorie scheinen sich heutzutage zu verflüchtigen.

  6. Respekt vor ihrem “Eswahreinmal” und um das Wissen über die Richtigkeit eines Moments. Nur bei der “Mauer” bin ich mir nicht ganz sicher. Wurde die nicht einfach digitalisiert?

    • Vroni, Lenie, … und den Typen aus Melbourne, mit dem sie, bei der Hinfahrt, die Nacht im Zugabteil verbracht haben, hätten sie aber auch überall sonst kennen lernen können.

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