Skylla & Charybdis
Julya Rabinowich nimmt uns mit auf einen Trip auf Memory Lane.
Julya Rabinowich
05. November 2022 | Die Autorin dieser Zeilen sitzt gerade in Berlin, mit Blick auf die einfahrenden Züge aus dem bodentiefen Fenster. Draußen dunkelt es, ein Mann mit zwei Dackeln geht im fallenden Laub der herbstlich eingefärbten Bäume spazieren. Die Hunde sind artig, sie folgen ihm, ohne die Leine zu spannen, die Nasen am Boden, auf der Suche nach aufregenden Gerüchen nach Fäulnis und toten Insekten. Irgendjemand schlägt in wilder Konsequenz seit über einer Stunde die Trommel. Es dunkelt, die Nacht fällt über die Lichter der Großstadt und schärft sie nach, der blutrote Streifen am Horizont hinter den Gleisen schwindet. Die Erinnerungen an ein anderes, früheres Berlin schwinden nicht, sie steigen empor wie Wasserblasen in dunklem Moor. Ich war hier, als die Mauer fiel.
Als zwei Welten einander berührten- in grenzenlosen Euphorie. Ich war hier, als das wilde Berlin der Achtziger dem sleeken Berlin der Neunziger und der Nuller wich. Manchmal begegnen mir hier Menschen auf der Straße, bei denen ich nicht sicher bin, ob das die sind, die damals mit mir an der Mauer gefeiert haben, ob das jene waren, mit denen ich in besetzten Häusern saß, jene, die mit mir auf Flohmärkten nach ausrangierten Pantherfleckenhosen suchten. Die Gesichter sind so viel älter geworden. Ich war hier: mit achtzehn. Mit fünfundzwanzig. Mit vierzig. Die Stadt wandelte sich, ich wandelte mich mit.
Irgendwie waren wir nie auf gleicher Sendespur, Berlin und ich. Berlin war wilder, war schneller, war kompromissloser als ich. Das hatte durchaus Nachteile, aber auch gravierende Vorteile. Neue Freunde kamen, alte Freunde vergingen. Die damaligen Protagonisten leben zum Teil nicht mehr, das schnelle Berliner Leben ist manchmal zu schnell.
Ich sitze also jetzt in diesem Hotelzimmer, das mein Verlag für mich dankenswerterweise gebucht hat. Ich sehe auf den Bahnhof, alles scheint surreal, als ob die Matrix einen Umbau vorgenommen hätte. Meine allerersten Tage in Berlin waren Tage ohne Dach über dem Kopf. Ein Springen von Stadtteil zu Stadtteil. Vom Westen vordringend in den östlichen Bereich. Checkpoint Charlie stand noch. Jetzt wird die Mauer als Souvenir verkauft, gezähmt, zerkleinert, den Schrecken ausgehaucht. Wieviele von den Punks wohl noch am Leben sind, mit denen ich hier damals abhing?
Einer, der Benzin hieß, weil er ebensolchen zu trinken pflegte, wohl nicht mehr. Aber ich muss nicht nach Berlin blicken, wenn ich ein Stück Nekropolis sehen möchte, auch Wien hat Morbidität zu bieten, eine andere, eine verstohlenere, langsamere Morbidität, die nichts von der scharfkantigen, grell beleuchteten Todessehnsucht Berlins aufweist: eher ein langsames Verschwinden. Wie Martin Marek, alias Operator Spice, einer der ersten österreichischen Elektronikmusiker, mit seiner Musikmaschine, die verstummt ist, lange bevor er verstummte. Wenn ich nach Wien zurückkehre, ist Martin, ein Mensch, mit dem ich ein Stück meines Lebens teilte- in Noten, in Klängen, in Buchstaben und Worten- dieser Mensch wird nicht mehr sein. Gegangen zwei Tage vor Halloween, irgendwann in der Nacht zwischen Freitag und Samstag davongegeglitten in fremde Gebiete, vor denen wir uns fürchten, die wir alle irgendwann betreten werden. Dort, wo die Zeit aufhört.
Time, das war auch der Name seiner ersten Solo-CD. Die seine einzige blieb. Ein talentierter Mensch, ein schwieriger Mensch, ein zerstörerischer Mensch, der in allerersten Linie sich selbst vernichtet hatte, über Jahre hinweg. Und wir haben alle zugesehen. Hatten es probiert, auf heftigen Widerstand gestoßen und es aufgegeben. Haben es geschehen lassen. Wenn jemand gehen will, findet er einen Weg, no matter what. Martin hat sich etwas Zeit, time eben, gelassen, und hat dann die Tür zum Diesseits zugeschlagen. Ich sitze in Berlin, blicke in die Nacht, höre die fahrenden Züge, spüre Bremsspuren im Herzen. Wenn ihr einander wichtiges zu sagen habt: tut es. Nicht nur zu Weihnachten. Nicht nur zu Allerseelen. Wenn ihr jemanden zu umarmen habt: tut es. Nicht nur zum Geburtstag. Wenn ihr jemanden liebt, bereut es nicht. Es gibt nichts Wichtigeres.
Titelbild: ZackZack