Frankreich ist gespaltener und wütender als je zuvor. In Paris türmt sich der Müll auf den Straßen, die Randale nehmen zu. Währenddessen kündigt Marine Le Pen ein Misstrauensvotum gegen die Regierung an. Stimmen aus den internationalen Zeitungen.
Paris/London/Zürich/Wien | Emmanuel Macron hat die Pensionsreform in Frankreich durchgedrückt – ohne Abstimmung in der Nationalversammlung. Wie kommentieren das die internationalen Zeitungen?
Die Londoner “Times” schreibt:
“Emmanuel Macron hat beachtlichen politischen Mut bewiesen, als er das Gesetz zur Anhebung des Pensionsantrittsalters auf 64 Jahre durchdrückte. Nach einem gescheiterten Versuch, die Unterstützung des Parlaments zu erhalten, verzichtete der französische Präsident auf eine Abstimmung und entschied sich für ein Dekret. Angesichts seiner politischen Isolation in dieser brisanten Frage ist dies ein mutiger – manche würden sagen tollkühner – Schritt. Aber es ging um eine Herausforderung, die gemeistert werden musste. Frankreich kann sich sein luxuriöses Pensionssystem nicht mehr leisten. (…)
Unterdessen machte sich die Rechtsaußen-Politikerin Marine Le Pen das Unbehagen über den Präsidenten zunutze und kündigte ein Misstrauensvotum an. Macron muss das durchstehen. Frankreich wird manchmal als unreformierbar angesehen. Das Gesetz zur Pensionsreform wurde verschiedentlich als ‘unmenschlich’ und ‘brutal’ kritisiert. Nichts dergleichen trifft zu. Wenn sich die Zeiten ändern, muss sich auch Frankreich mit ihnen ändern.”
“Libération” (Paris):
“(Der französische Präsident) Emmanuel Macron hat alle Eier, die er im Kühlschrank hatte, aufgeschlagen, aber es ist ihm nicht gelungen, ein Omelett zu machen. (…) All das, um nach Wochen gegenteiliger Erklärungen den schändlichen Artikel 49.3 zu zücken, um eine Abstimmung zu verhindern, die er zu verlieren drohte. (…) Ist er wirklich davon überzeugt, dass die Märkte nur auf seine Reform warten? (…) Was die Märkte am meisten hassen (…) ist Instabilität. Und seine schlecht durchdachte Pensionsreform treibt Frankreich, seine Demokratie und seine Arbeitnehmer direkt in diese Instabilität.
Der Präsident könnte die Lage retten, indem er ankündigt, dass das Gesetz nach seiner undemokratischen Verabschiedung aufgehoben wird. Aber es ist nicht seine Art, den Franzosen zuzuhören.”
“Neue Zürcher Zeitung”:
“Die Anwendung des Verfassungsartikels 49.3 ist völlig legal. Doch schwächt eine Verabschiedung des Gesetzes ohne Abstimmung in der großen Kammer die Akzeptanz der Reform. Das Vorhaben ist von Anfang an in der Bevölkerung extrem unpopulär gewesen. Und die Gewerkschaften haben bereits angekündigt, weiter zu demonstrieren. Mit zunehmenden Ausschreitungen bei Protesten muss gerechnet werden. Allenfalls könnte die Reform dennoch verhindert werden: falls gegen die Regierung ein Misstrauensantrag gestellt wird und dieser durchkommt. Das Erstere wird auf jeden Fall versucht werden, das Letztere wird sehr wahrscheinlich nicht gelingen.
Dennoch ist die Regierung geschwächt, und die Rentenreform, obwohl angenommen, ist für sie eine Niederlage. Das Rentenalter wird mit der Reform bis 2030 sukzessive von 62 auf 64 Jahre ansteigen. Die Beitragszeit wird auf 43 Jahre verlängert. Und die meisten Renten-Spezialregime werden abgeschafft. Das ist gut. Die Reform war dringend nötig.”
apa | Titelbild: BERTRAND GUAY / AFP / picturedesk.com