»Wir sind das Volk«, skandieren Demonstranten immer wieder, um sich zu legitimieren. Manche Parteien führen das Wort »Volk« in ihrem Namen. Und doch regiert in Österreich die Angst vor dem Volk.
»Wir sind das Volk«, sagt Onkel Rainer in meinem Roman Wir bleiben noch zu seiner Tochter Karoline. Und sie antwortet: »Das Volk wird immer wirer.« Es hat viel Mühe gekostet, diesen absichtlichen Fehler (die Steigerung des Personalpronomens wir anstatt dem naheliegenden wirrer) in den Druck zu bringen. Hartnäckig haben die Profis des Korrekturlesens den Fehler moniert. Am Ende siegte das richtige Falsche. Auf Seite 61 meines Buches steht es so, wie ich es haben wollte.
Dass das Volk in Erscheinung tritt, selbst mit einer kleinen Abordnung, macht Politikern Angst, seltsamerweise vor allem Rechtspopulisten. Ihre Corona-Politik hat das deutlich gemacht. Zuerst sind sie vorgeprescht, dann aus Angst zurückgerudert und heute wollen sie »Gräben zuschütten«. Nun, der Graben in Wien ist zwar noch nicht zugeschüttet, aber zumindest durch seine vielen Baustellen eine Beule der Pestsäule geworden. Das Volk hat aber in mehr als fünf Jahren rechtpopulistischer Regierungen nichts erreicht. Warum nicht?
Umfallen kostet nichts
In ihren Ankündigungen sind die rechtpopulistischen Parteien ÖVP und FPÖ, die in Wahrheit das Ziel verfolgen, Österreich in eine Oligarchie mit staatlich kontrollierter Medienlandschaft zu errichten, heuchlerisch. Beispiele fürs Umfallen gibt es hunderte. Da hieß es im Wahlkampf 2017 von der FPÖ, eine Volksabstimmung über CETA sei für sie »Koalitionsbedingung«. Die FPÖ, die immer von direkter Demokratie sprach, ohne je einen Schritt in diese Richtung zu tun, wollte nach der Wahl von dieser Ankündigung nichts mehr wissen: Sie hat CETA ratifiziert – ohne Volksabstimmung. Stimmen gekostet hat es die FPÖ keine.
Die ÖVP, die in der großen Koalition mit der SPÖ einen Gesetzesentwurf für ein Rauchverbot in der Gastronomie vorgelegt hatte, der im Nationalrat mit großer Mehrheit beschlossen wurde, nahm das Gesetz in der Koalition mit der FPÖ wieder zurück. In der nächsten Koalition mit den Grünen beschloss sie es wieder. Was ist der Standpunkt der ÖVP? Keiner. Sie nimmt jeweils den ein, den sie als Tauschware in einer Koalition einsetzen kann. Stimmen gekostet hat es die ÖVP keine.
Die Verfassung steht im Weg
Wenn heute von »Polarisierung« oder »Spaltung der Gesellschaft« die Rede ist, will man uns warnen. Wovor? Davor, eine Meinung zu haben? Oder davor, dass regierende Rechtspopulisten eine politische Kraft, die erst die Demokratie ausmacht, nicht akzeptieren: Opposition. Das Gerede von der gespaltenen Gesellschaft ist ein politisches Geschäft geworden. Damit werden Meinungen delegitimiert. Nicht nur Meinungen, sogar Gesetze und Verfassungsgesetze.
Auf diese krumme Weise verlaufen auch die sogenannten Diskussionen über Österreichs Sicherheitspolitik. Dahinter steckt der Wunsch bestimmter Gruppen, der NATO beizutreten, eine Forderung, die Jörg Haider schon kurz nach der Übernahme des Vorsitzes der FPÖ gestellt und immer wieder bekräftigt hat. So finden wir u.a. in den Oberösterreichischen Nachrichten vom 29. Juni 1994 (Seite 2) die knappe Meldung: »Den Beitritt zur NATO forderte gestern FP-Obmann Jörg Haider. Ob man wolle oder nicht, dieser Schritt bleibe Österreich nicht erspart, sagte Haider.«
Dem NATO-Beitritt steht allerdings ein Verfassungsgesetz im Weg: das Neutralitätsgesetz. Die Vorgabe für die Abschaffung der Neutralität ist ganz klar: Man benötigt dafür eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Die gibt es anscheinend nicht. Also wird in allerlei Medien an der Neutralität gesägt. Von manchen wird sie delegitimiert, weil sie angeblich unter dem Druck Russlands entstanden sei (wobei seltsamerweise die UdSSR mit Russland gleichgesetzt wird). Tatsächlich wurde das Neutralitätsgesetz aber vom Nationalrat des freien Österreich beschlossen und keine der Alliierten Mächte hatte damals noch Einfluss auf diesen Beschluss.
Die Politik der kleinen Schritte
Dann wieder wird die Neutralität als veraltet oder als hohl bezeichnet. Vielleicht könnte man sie ja mit mehr Bedeutung erfüllen, anstatt sie abzuschaffen? Nun gibt es einen neuen Weg, der vermutlich in einer Politik der kleinen Schritte zur NATO führen soll: Sky Shield. Obwohl wir unseren Luftraum seit dem Kauf der Eurofighter, der bis heute Gerichte beschäftigt, umfassend verteidigen, ist diese Verteidigung nicht mehr umfassend genug. Sky Shield ist ein System aus Abwehrraketen – Raketen also, die andere Raketen abschießen sollen. Manches Mal verfehlen sie ihr Ziel auch und schlagen dann irgendwo ein, wenn man Pech hat in einem Wohngebiet.
Der Außenminister hat mit der bloßen Behauptung, Sky Shield sei mit der Neutralität vereinbar, bereits klargemacht, wie es gehen soll: Der Beitritt erfolgt per Regierungsbeschluss. Ein Experte des Bundesheers spricht in der ORF-Future-Zone von einem Start im Jahr 2025. Warum kann das Volk nicht über den Beitritt abstimmen? Weil es nur unter sozialdemokratischen Bundeskanzlern Volksabstimmungen gibt?
Angst vor dem Volk
Das letzte Mittel, wenn die Gesellschaft in einer Frage gespalten ist, ist das der Volksabstimmung. Sie gibt den politischen Parteien auch die Möglichkeit, eine bestimmte Frage von der Entscheidung bei einer Nationalratswahl zu entkoppeln. So stimmte Österreich 1978 mehrheitlich gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie und somit die Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Zwentendorf und stattete wenige Monate später (im Jahr 1979) die SPÖ mit Spitzenkandidat Kreisky – einem Befürworter Zwentendorfs – mit der größten Mehrheit aus, die eine Partei bei einer Nationalratswahl in Österreich je erreicht hat. Ist die Aufrüstung Österreichs zu einer Raketenmacht und die Annäherung an die NATO jetzt schon beschlossen? Hat man, wie einst Wolfgang Schüssel beim Kauf der Eurofighter, Angst vor der Meinung der Mehrheit? Unübersehbar ist: Man will diese Entscheidung weder dem Volk noch dem vom Volk gewählten Nationalrat überlassen. Die Entscheidung ist – fürchte ich – längst getroffen worden.
Titelbild: Miriam Mone / ZackZack