Samstag, Juli 27, 2024

Rache an den Falschen

Scheinmoral wird zu Rassismus: Auf der Buchmesse in Frankfurt wird einer palästinensischen Autorin, die über Gewalt an Frauen schreibt, eine Auszeichnung nicht verliehen.

Die palästinensische Autorin Adania Shibli hat einen Roman über Gewalt an Frauen geschrieben. Er heißt Die Nebensache und erzählt von Missbrauch und Ermordung eines Mädchens im Jahre 1949. Der Roman war für viele Preise nominiert, unter anderem für den International Booker Prize. Ausgezeichnet wurde er mit dem LiBeratur-Preis, der am Freitag, 20. Oktober 2023, auf der Buchmesse in Frankfurt verliehen werden sollte.

Nun wurde die Verleihung des Preises auf der Buchmesse in Frankfurt abgesagt. Das soll wohl ein Zeichen sein. Es ist auch tatsächlich ein Zeichen – ein falsches Zeichen. Und es zeigt, wie sich bloßer Populismus und unreflektiertes Lagerdenken gegen das eigene Ansinnen wenden und die Gegner von Gewalt zu ihren Unterstützern macht.

Geschäfte mit den Unterstützern der Hamas

Manche sagen: »Es ist nicht die Zeit für „Ja, aber …“-Argumentationen.« Doch in diesem Fall gibt es kein Aber. Einer Autorin einen Preis nicht zu verleihen, weil sie Palästinenserin ist, ist Rassismus. Punkt.

Vor wenigen Tagen war Tamim bin Hamid al Thani, der Emir von Qatar, zu einem Staatsbesuch in Berlin. Der österreichische Kanzler Nehammer besuchte im März 2022 in Begleitung von Umweltministerin Leonore Gewessler Qatar. Qatar ist ein wesentlicher Unterstützer der Hamas. Die wichtigsten Anführer der Hamas haben in Qatar ihren Wohnsitz. Wie die deutsche Tagesschau berichtet, stellte der Islamwissenschaftler Guido Steinberg fest: »Der Chef des Politbüros der Hamas, der mächtigste Mann der Organisation, Ismail Haniyya, sitzt in Doha. Er hat auch seine Siegesrede, wie er das nannte, im qatarischen Fernsehen bei Al-Jazeera in voller Länge gehalten, ohne dass das kommentiert wurde.«

Die Spirale der Gewalt

Wenn man also Zeichen gegen Terrorismus und Gewalt setzen wollte, gäbe es viele Möglichkeiten. Die Verleihung eines Preises an eine Autorin, die sich mit Gewalt gegen Frauen auseinandersetzt, abzusagen, ist keine davon. Im Gegenteil bestätigt er die Befürchtung, dass die Spirale der Gewalt durch solches Handeln beschleunigt wird.

Als Yitzhak Rabin und Yassir Arafat 1994 das Abkommen von Kairo unterzeichneten, gab es Hoffnung; die Hoffnung, dass ein jahrzehntelanger Konflikt endlich beendet werden könnte und zwei Generationen später kein Thema mehr sein würde. Für die radikalen Kräfte auf beiden Seiten bedeutete das: Sie mussten den Konflikt aufrechthalten, Gewalt provozieren, die radikalen Kräfte auf der Gegenseite unterstützen.

Der befangene Westen

Auf beiden Seiten gab es kleine Gruppen, die die Lösung nicht anerkannten. Auch heute ist es so: Die Hamas will Israel nicht anerkennen. Die Siedler, die sich in den Palästinensergebieten niederlassen und den Schutz der israelischen Armee fordern und auch zum Teil bekommen, erkennen Abkommen nicht an, die ihre Regierung unterzeichnet hat. Seit den Neunzigerjahren sind aber die radikalen Gruppen stark angewachsen und keine Minderheiten mehr. Israel hat heute eine rechtsextreme Regierung. In den Palästinensergebieten gibt es keine Demokratie mehr. 2006 erhielt die Hamas bei den Parlamentswahlen 44 %. Ein Jahr darauf griff die Hamas die Fatah an und brachte den Gazastreifen gewaltsam unter ihre Kontrolle. Seither gab es keine Wahlen mehr.

Westliche Regierungen treten nicht als Vermittler auf, sondern als Befangene. Sie möchten ihrer Solidarität mit Israel Ausdruck verleihen, aber gleichzeitig stellt sich heraus, dass sie milliardenschwere Geschäfte mit den Unterstützern der Hamas machen. Und so fällt ihnen nichts anderes ein, als rassistisch, also pauschalisierend, über Palästinenser zu urteilen, während sie behaupten, Rassismus abzulehnen. Dieser sanktionierte Rassismus, die sanktionierte Politik der Rache bewirkt keine Deeskalation. Er endet entweder in Eskalation oder in einem Genozid an den Palästinensern.

Rache an den Falschen

Rache ist keine Wiedergutmachung. Rache ist die Fortsetzung eines Konflikts mit den Mitteln derer, die man verurteilt. Die Rache am Terrorismus der Hamas trifft nicht die Hamas. Und wenn man die gesamte palästinensische Zivilbevölkerung zu Terroristen erklärt und durch das Lahmlegen der Infrastruktur verhindert, dass kleine palästinensische Kinder in Spitälern nicht behandelt werden können und sterben müssen, befeuert man damit die Radikalisierung der Bevölkerung und züchtet eine ganze Generation neuer Terroristen.

Es ist die Rache an den Falschen – und wie immer trifft sie nur die Schwachen und Wehrlosen. Marcus Aurelius schrieb: »Die beste Rache ist, nicht wie derjenige zu sein, der die Verletzung vollzogen hat.« Das Zurückschlagen mit denselben Mitteln bewirkt eine Spirale der Gewalt.

Pauschale Diffamierung

Adania Shibli wird es aushalten, dass sie ihren Preis auf der Buchmesse nicht verliehen bekommt. Ob unsere Gesellschaft es aushalten wird, dass eine rassistische Position nach und nach als die einzig richtige Position gefordert und durchgesetzt wird, werden wir sehen. Der Irrtum ist: Wenn man der Autorin ihre Auszeichnung verleiht, relativiert man damit nicht die Verbrechen der Hamas. Und auch Slavoj Žižek hat bei seiner Rede in Frankfurt die Verbrechen der Hamas nicht relativiert, sondern er hat sie im Gegenteil expressis verbis verurteilt.

Der Populismus, die Einseitigkeit, die hinter der Absage der Preisverleihung steht, ist ganz klarer Rassismus. Hier wird eine Frau, die über Gewalt an Frauen schreibt, aufgrund ihrer Herkunft sanktioniert und benachteiligt. Denn wäre die Preisträgerin Polin oder Brasilianerin, würde man den Preis verleihen.

Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Daniel Wisser

    Daniel Wisser ist preisgekrönter Autor von Romanen und Kurzgeschichten. Scharf und genau beschreibt er, wie ein Land das Gleichgewicht verliert.

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