Neben dem Aufwärmen alter antisemitischer Verschwörungserzählungen kommen neue dazu. Geharnischt in Regenbogenfarben schreien Menschen „From the river to the sea“. Als ob sie nicht wissen könnten, was ihnen in Gaza drohen wuerde. In Opfertäterumkehr sind es plötzlich die Zivilisten und Zivilistinnen selbst, die quasi an ihrer Ermordung schuld seien.
Was habe ich meine Verwandten und andere Bekannte der Familie nicht lächerlich gefunden, in ihrer Sorge vor Antisemitismus von links. Ganze Abende haben wir gestritten, alle mit Leidenschaft, bis die letzte Flasche Wein oder Mineralwasser leer war, der letzte Keks gegessen. Sie hielten mich für naiv. Sie hielten mich für leichtsinnig. Sie dachten, ich sei mit Punk-Scheuklappen ausgestattet. Ja, ich trug damals blaues Haar und zerrissene Netzstrumpfhosen, ich trieb mich in Lokalen herum, in denen Palästinensertücher der absolute dernier cri waren, ich glaubte an die große wilde Freiheit und ich glaubte, dass sie alt waren und keine Ahnung hatten. Unter meinen Freunden waren mehrere, die aus jüdischen Familien stammten, und die das genauso sahen wie ich. Wir waren cool, wir waren Rebellen! Peer group, peer group über alles! Ich musste mir damals Scheuklappen aufgesetzt haben, denn ich verdrängte all den Antisemitismus, dem wir in der UdSSR ausgesetzt gewesen waren. Allerdings waren Punks in der UdSSR schwer verboten, jede und jeder eine persona non grata, deswegen zweifelte ich nicht an der Richtigkeit meiner Rebellion.
Jüdische Verschwörungen
Als mir eine langjährige Freundin ein paar Jahre später (da blickten wir weise lächelnd auf unsere Punkexzesse zurück und fühlten uns gereift und erwachsen, was wir natürlich immer noch nicht waren) eines Tages erzählte, dass es reiche Juden gewesen seien, die das World Trade Center gesprengt und all die Toten verursacht hatten, war vermutlich das erste Mal, an dem mich ein klammes Gefühl beschlich, von Solarplexus ausbreitend in die Kehle, das hinderte mich zwar an einer fürchterlichen Schreierei, ließ aber auch keine innige Nähe mehr zu, auch nach versuchten klärenden Gesprächen.
Und es ging weiter. Als der Vater eines damaligen Partners mir vorwarf, ein moralischer Wendehals zu sein, weil Juden halt so wären, blieb mir der Schrei erneut in der Kehle stecken.
Der Vater war schon definitiv aus dem Punkalter raus, da gab es keine Entschuldigung mehr dazu. Das war quasi die Hardware zu einer bis dahin nur aus der Ferne angedeuteten Software des hiesigen Antisemitismus.
Es waren Kaleidoskopsteinchen, die nach und nach in ein gewisses Muster fielen. Noch eine Begegnung dieser Art. Dann noch eine. Die von rechts erkannte ich schnell und wich ihnen aus, die kannte ich, es war nichts Ungewohntes. Die von links versuchte ich immer noch auszublenden.
Ich habe für viele muslimische Geflüchtete übersetzt und habe es nie bereut. Viele waren übrigens sehr solidarisch, da sie sich auch als verfolgte Minderheit definierten. Ein paar waren es nicht.
Leben in Angst
Als ich im September dieses Jahres in Berlin an den jüdischen Kulturtagen teilnahm, entspann sich auf dem Weg zum Zelt am Babelplatz ein Dialog mit dem Fahrer. Innerhalb von Minuten waren wir von den üblichen Floskeln plötzlich bei Charlie Hebdo gelandet, er redete sich in Rage. Sie seien selbst schuld gewesen, man lache nicht über Gott. Ich wendete ein, dass nicht alle gottgläubig seien, dass die Freiheit des Gedankens wichtig und unersetzbar wäre, erwähnte meine Patienten, für die ich übersetzt hatte. Er schrie wie ein Wilder. Von Hebdo war der Sprung zu den Juden nicht weit. Er fuhr so wild, dass ich kurzfristig wirklich Angst bekam. Und an diese Steinchen dachte, die Kaleidoskopsteinchen, die einer nach dem anderen in ein Muster fataler Gewalt fielen. Die Juden waren jedenfalls schuld. Auch an Charlie Hebdo. Ich gestehe, dass meine Knie zitterten, als ich ausstieg. Und dass ich daran dachte, was wohl jetzt passieren würde, wenn der Schriftzug „Jüdische Kulturtage“ groß auf dem riesigen Zelt zu lesen gewesen wäre. Ich schämte mich meiner Angst.
Ich las. Als ich mit der Lesung fertig war, schenkte mir der Organisator ein kleines Kaleidoskop, als hätte er meine Gedanken zu diesen Mustern gelesen. Die Steinchen stünden für ihn für all die verschiedenen Aspekte des Jüdischseins, sagte er. Und ich war froh, dass sein Bild eines Kaleidoskops ein anderes war als meines.
Das war tröstlich.
„Linke“ Verirrungen
Alles das bekommt eine schreckliche weitere Drehung. Eine Welle an Hass Juden und Jüdinnen gegenüber bricht sich Bahn, die ich nie für möglich gehalten hätte. In Opfertäterumkehr sind es plötzlich die Zivilisten und Zivilistinnen selbst, die quasi an ihrer Ermordung schuld seien. Eine Israel-Fahne wird vor der größten Synagoge Wiens abgerissen. In Graz wird sie erst gar nicht hochgezogen. Jetzt, wo Israelis und Jüdinnen und Juden auf Solidarität hoffen. Auf Demos brüllen die Menschen immer noch den Wunsch nach der Vernichtung Israels. Fotos mit Suchaufrufen der von der Hamas entführten Kinder werden abgerissen: in Europa, in New York. Auf Tik-Tok explodiert hübsch gefilterter Selfie-Antisemitismus. Greta Thunberg steuert das Klimaschiff FFF in den antisemitischen Eisberg, bis Luisa Neubauer zurückrudern muss. Dafür mein größter Dank. Manche jüdische Mitbürger und Mitbürgerinnen haben Angst, auf der Straße hebräisch zu sprechen. Manche verstecken ihren Davidstern lieber. Queere Menschen in bunten Kleidern fordern regenbogenumhängt „from the river to the sea“ und lächeln voll kindlicher Naivität, als ob sie nicht wissen können, was mit Homosexuellen in Palästina so passiert. Im Übrigen bin ich nicht in Bringschuld des Beweises, dass die Auslöschung Israels sowie der Todeswunsch an Jüdinnen und Juden weltweit an Nationalsozialismus erinnert, sich ihm annähert, auch wenn er von links kommt. Nicht ich muss meine Position überdenken, sondern jene, die den einen Teil des Narrensaum an den anderen reiben. Ich habe keine Ahnung, wohin das führen wird. Ich habe keine Ahnung, wie wir alle später damit klarkommen sollen. Ich habe Sorge, dass dieser Spalt für immer ist. Oder sagen wir, für lange Zeit.
Titelbild: Miriam Moné