Samstag, Juli 27, 2024

Die Tragödie der Judith Butler

Sind Gendertheorie, Queer Studies und der Postkolonialismus völlig entgleist oder gar eine Sackgasse? Eine Ehrenrettung.

Teil 1

Judith Butler hat es wieder getan. Bei einer Debatte in Frankreich meinte die US-Professorin, eine der berühmtesten Intellektuellen der Welt, wir sollten das Hamas-Gemetzel vom 7. Oktober nicht als „Terroranschlag“ und auch nicht als „antisemitisch“ bezeichnen, sondern als „bewaffneten Widerstand“ gegen eine Gewaltherrschaft. Zwar hat sie damit das Blutbad keineswegs gerechtfertigt, immerhin hat sie hinzugefügt, dass wir, auf dieser Basis gewissermaßen, dann diskutieren könnten, ob es eine legitime Form des „bewaffneten Widerstandes“ sei oder nicht. Aber das sind dann schon eher Haarspaltereien. Der erwartbare Aufschrei blieb nicht aus. Schon vor vielen Jahren bezeichnete sie die Hamas, die Hisbollah und andere als „Progressive, auf der Linken, als Teil der globalen Linken“.

Bei aller Gutwilligkeit: da bleibt man nur mehr kopfschüttelnd zurück.

Eine Spielart der kulturellen Linken – oft die „Woken“ oder die Anhänger von „Identitätspolitik“ genannt – sind gegenwärtig sehr im Eck, sie zerlegen sich quasi selbst. Die Nachwehen und Verrücktheiten nach dem 7. Oktober und in Folge des Gazakrieges sind dafür ein Grund, aber nicht der einzige. Es gibt hier drei Gründe:

Der erste Grund

Butler ist gewissermaßen die Ikone der „Gender Theory“ und der „Queer Studies“, die fixe Geschlechteridentitäten dekonstruierten und konventionelle Lebensformen angriffen, das, was man in dieser Denkschule die „Heteronormativität“ nennt. Viele Fans dieser Theorien der jüngeren Generation haben diesem Denken gewisse Breitenwirksamkeit beschafft, aber in den Augen vieler, etwa auch feministischer Zeitgenossinnen, auch massiv „übertrieben“. Das hat schon seit einiger Zeit sehr viel aggressive Ablehnung und Gegenwehr ausgelöst. Im linken Zirkelwesen grassieren neumodische Sprachspiele über „FLINTA“ oder Unfug-Rede über „weiblich gelesene Personen“. Das, so der Vorwurf, führe zu einer Isolation dieser radikalen, postmodernen Linken von den Lebensrealitäten der breiten Masse und schadet der Linken daher massiv. Für Konservative ist die Auflösung von Geschlechteridentitäten sowieso ein rotes Tuch, wir sehen das an den dauernden Triggerdebatten um Transpersonen.

Der zweite Grund

In den auf Fragen von Identität und Lebensformen versteiften akademisch-linken Milieus sind nicht nur Fragen von Queerness en vogue, sondern auch Fragen von „Race“ – wie man in den USA dazu noch sagt – oder, wie man in unseren Breiten formulieren würde von Ethnizität. Im Grunde haben die „Queer“-Theory und etwa die „postkoloniale Theorie“ nicht automatisch sehr viel miteinander zu tun, denn Benachteiligung durch Geschlecht, sexuelle Orientierung und Unterdrückungserfahrung durch Hautfarbe, Herkunft, Ethnizität und Kolonialismus sind an sich ja zwei verschiedene Sachen. Sie haben aber viel miteinander zu tun. Erstens, weil die Aktivistengruppen, die sich in diesen Fragen engagieren, mehr oder weniger die gleichen sind. Andererseits, weil die betreffenden Denkschulen stets beteuern, dass Konflikte rund um Klasse, Sexualität, Geschlecht und Ethnizität miteinander verwoben sind. Sie haben, wie das in akademisch-exaltierten Diskursen nicht unüblich ist, dafür sogar einen eigenen Begriff erfunden, nämlich den der „Intersektionalität“.

Hier wird mit Gigantomanie eine Banalität bemäntelt: Dass nichts auf der Welt monokausal, also nur durch eine Ursache erklärbar, ist und alles irgendwie miteinander verbunden, das ist jetzt nicht die größte Entdeckung seit Entwicklung des kopernikanischen Weltbildes.

Viele Denkschulen der postkolonialen Theorie haben die Ansicht stark gemacht, dass Herabsetzung und Unterprivilegiertheit durch Ethnizität auch dann weiter wirken, wenn rechtlich gesehen formale Gleichheit herrscht, und dass selbst die subtilsten Zurückweisungen eine Form von Gewalt sind. Weiße dagegen seien, selbst wenn sie selbst unterprivilegiert sind, von dieser Gewalt niemals betroffen. In die Seelen von Minderheiten, von Nicht-Weißen, von Zuwanderern gar, schreiben sich die Rassismuserfahrungen als Abfolge von unendlich vielen Verwundungen ein. Und imperiale Unterdrückung ist nicht nur eine Sache aus der Vergangenheit. Machteffekte drücken sich nicht nur in manifester Repression aus. Schon ein scheeler Blick kann ein Machteffekt sein.

Nichts von all dem ist falsch, aber wie wir in der jüngsten Zeit erkennen konnten, kann diese „Theory“ einem dichotomischen Weltbild Tür und Tor öffnen, einer Mischung aus Larmoyanz und Selbstgerechtigkeit, einem Schwarz-Weiß-Denken, bei dem die einen immer nur Täter, die anderen immer nur Opfer sind.  

Der dritte Grund

Diese „Identitätspolitik“, wie sie salopp genannt wird, spaltet. Unterschiedliche Gruppen konzentrieren sich nur mehr auf ihre eigenen speziellen Unterdrückungserfahrungen, mehr noch, es zieht ein konfrontativer Stil ein, der breite Allianzen erschwert oder sogar verunmöglicht. Ein weiterer, nicht unähnlicher Vorwurf lautet: Konflikte rund um Fragen von „Lebenskultur“ werden groß gemacht, aber die großen Konfliktlinien, etwa um materielle Interessen, um Klassenunterschiede geraten in den Hintergrund. Die arbeitenden Klassen sind nicht mehr aktionsfähig, weil sie dauernd um andere Themengruppen herum gespalten werden, etwa: Wie hältst du es mit Transtoiletten? Wie ist das mit dem Gendern? Wie soll man sprechen? Arbeitest du auch ehrlich deine Privilegien als Weißer auf? Hältst du bitte einmal die Klappe, damit auch mehr Unterprivilegierte endlich einmal zu Wort kommen? Eine Klasse, die eigentlich solidarisch agieren sollte, wird permanent gegeneinander aufgebracht.

Ich halte ja alle diese Kritikpunkte an der „Identitätspolitik“ für richtig und teile zumindest einige Aspekte dieser Kritik. Die überzogene Erfindung von dauernd neuen Begriffen ist ein bisschen lächerlich, aber auch noch schlimmer: Sie versucht Zurückweisungen zu bekämpfen, indem sie, oft ohne es zu merken, neue schafft oder zementiert. Wer nicht die gerade angesagtesten Begriffe kennt oder lernt, wird als zurückgebliebener Trottel hingestellt oder geschulmeistert und zurechtgewiesen. Was die einen ermächtigen soll, macht zugleich die anderen runter. Schwarz-Weiß-Denken kann im schlimmsten Fall Gewalt und so etwas wie leninistische Unbedingtheit nach sich ziehen. Und der konfrontative Stil spaltet und verhindert, dass Gutmeinende gemeinsam an einem Strang ziehen, die in Einzelfragen unterschiedliche Ansichten oder Empfindungen haben. Alles wahr.

Nur frage ich mich langsam, ob nicht die Gefahr besteht, dass wir damit auch das Kind mit dem Bade ausschütten.

Denn vieles an Gesellschaftsanalyse und -kritik von Gender-, Queer- und postkolonialer Theorie ist ja nicht nur wahr: Wir können und sollen hinter sie nie mehr zurück.


Teil 2 von “Die Tragödie der Judith Butler” erscheint am 14. März 2024

Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Robert Misik

    Robert Misik ist einer der schärfsten Beobachter einer Politik, die nach links schimpft und nach rechts abrutscht.

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