Samstag, Juli 27, 2024

Die Tragödie der Judith Butler – Teil 2

Sind Gendertheorie, Queer Studies und der Postkolonialismus nur kulturelle Grabenkämpfe? Oder geht es um viel mehr?

Teil 2

Judith Butler hat schon vor mehr als 25 Jahren einen berühmten Text geschrieben mit dem eleganten Titel „Lediglich kulturell“. Die Kämpfe um Queerness, Geschlechteridentitäten, Rassismus und Ethnizität nennt sie in diesem Text die „neuen sozialen Bewegungen“, die von marxistischen oder eher traditionellen linken Kritikern als „spalterisch, identitär und partikularistisch“ hingestellt werden. Während die alte Linke um materielle Fragen – ökonomische Gleichheit und ordentliche Löhne – kämpfen wolle, seien, so die klassischen Linken, die neuen sozialen Bewegungen Butlers „lediglich kulturell“. Die Theorien, die die Bewegungen motivieren, etwa der „Poststrukturalismus“ seien „destruktiv, relativistisch und politisch lähmend“. Was Butler ins Visier nimmt, ist die in ihren Augen fragwürdige Unterscheidung zwischen „kulturellen“ Themen und „materieller“ Unterprivilegiertheit. Sie fragt: „Ist es überhaupt möglich, auf analytischer Ebene zwischen einem Mangel kultureller Anerkennung und materieller Unterdrückung zu unterscheiden, wenn genau jene Definition der Rechtspersönlichkeit rigoros durch kulturelle Normen begrenzt wird, die untrennbar mit ihren materiellen Effekten verknüpft sind?“

Kulturelles und Materielles

Einfacher gesagt: Wer als Angehörige/r einer Minderheit, die am Rand steht, definiert wird, der oder die wird kulturell abgewertet (beispielsweise das Ausländerkind, das doch schon mit einem Job als niedriger Hilfsarbeiter zufrieden sein kann), hat es daher aber auch materiell schwer. Noch einfacher gesagt: Rassismus und niedrige Löhne sind ja nicht zu trennen. Aber das gilt nicht nur für Minderheiten: Auch die Herablassung gegen die Arbeiterklasse, die als schlicht, ungebildet, unmodern und schlecht gekleidet „kulturell“ abgewertet wird, ist sowohl Folge von als auch Ursache für ökonomische Ausbeutung. Das Kulturelle, so Butler, lasse sich nie unterschlagen. Es gibt nichts, was „lediglich kulturell“ ist. Der Aufstieg der Arbeiterklasse in den besten Zeiten unserer Geschichte brachte umgekehrt ja auch beides: Einen materiellen Aufstieg, ordentliche Löhne, Arbeitsrechte und zugleich einen Gewinn an Respektabilität, an Anerkennung und einen Zugang zu Bildung und Kunst und Kultur. Das Materielle und das Kulturelle sind immer untrennbar verwoben.

Und da hat sie natürlich recht. Genauso wie die Vertreter der postkolonialen Theorie, die das Weiterwirken auch subtilster Unterdrückungsformen thematisieren, recht haben. Genauso wie sie natürlich auch recht haben, dass Angehörige einer Mehrheitsgesellschaft oft einen stereotypisierenden Blick haben, selbst wenn sie sich als Antirassisten begreifen. Das mag eine schmerzliche Wahrheit sein für jemanden wie beispielsweise mich, der ich ethnisch-kulturell Angehöriger der Mehrheitsgesellschaft in meinem Land bin, aber deswegen ist es ja nicht falsch.

Und das gleiche gilt natürlich für die gesamten Themenkomplexe von Feminismus, Geschlecht, sexueller Orientierung und Queerness.

Abweichungen machen freier

Wir haben es hier mit realen Konflikten zu tun, die eine lange Geschichte haben. Frauen waren lange unterdrückt, hatten nicht einmal formal gleiche Rechte und mussten sich Vieles erst erkämpfen. Geschlechterrollen, Chancenungleichheit, Sexismus und ökonomische Ausbeutung sind Aspekte eines miteinander verbundenen Geschehens. Wir haben hier viel erreicht, aber es ist noch nicht alles getan. Das selbe gilt für Homosexuelle. Es ist noch nicht lange her, da war jede Abweichung von der heterosexuellen Norm sogar illegal und als „pervers“ gebrandmarkt. Heute haben wir einen Konsens, sogar bis in Konservative und rechtsextreme Kreise hinein, dass das Mist aus glücklicherweise versunkener Vergangenheit ist. Aber Jugendliche, die ihr Schwulsein oder Lesbischsein „entdecken“, haben es sehr oft immer noch schwer. Dass man irgendwie anders ist als die Mehrheit, ist nie leicht. Umso mehr, wenn oft noch die Umgebung mit Ressentiments reagiert. Das ist ja auch heute noch so.  

„Queer zu sein, macht mich mehr verletzlich“, notierte Susan Sontag in ihr Tagebuch, da war sie schon eine Starautorin. Ursprünglich bedeutete der Terminus „Queer“ übrigens nichts anderes als „eine seltsame, komische Person“ zu sein, und wie so oft wurde eine negative Vokabel von den Betroffenen dann ins Positive gekehrt. Komplex war das alles sowieso schon immer. Die offene, nonkonformistische Lebenskultur der Städte, etwa in den berühmten „Goldenen Zwanziger Jahren“ in Wien, Berlin und anderswo, war immer schon auch von den schwulen und lesbischen Lebensstilen geprägt. Auch zu einer Zeit, als der Konformismus sexuelle Abweichungen von der Norm noch verurteilte.  

Was aber auch nichts anderes heißt als: die radikale Freiheit von Lebensformen hat nicht nur das Leben derer besser gemacht, die direkt davon profitierten, sondern auch aller anderer. Mit ihr ging Freiheit für alle einher. Die freien Lebenskulturen der Städte wurden immer von „Abweichungen“ geprägt. Mit diesen ging auch die Freiheit einher, dass jeder seine kleinen eigenen „Abweichungen“ leben konnte. Man kann gewissermaßen „queer“ sein, ohne schwul oder lesbisch zu sein.

Das Kulturelle am Geschlecht

Kommen wir zurück zu Judith Butler, die heute so gerne als Protagonistin von Theorien angesehen wird, die völlig entgleist seien. Schon Simone de Beauvoir, vielleicht die wichtigste Stichwortgeberin des modernen Feminismus seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, hat in ihrem 1949 geschriebenen Buch „Das andere Geschlecht“, formuliert: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“ Damit war schon das Hineinzwängen in Geschlechterrollen angesprochen, eine Thematik, die die spätere „Gender Theory“ aufgreifen und zentral machen wird, am berühmtesten eben Butler in ihrem Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“. Butlers These, die zunächst vor allem im poststrukturalistischen Theoriemilieu rezipiert wurde, lautet, dass das soziale Geschlecht nichts mit Biologie zu tun habe, sondern sozial diskursiv konstituiert und reproduziert wird. „Geschlecht“ in biologisch-anatomischer Hinsicht und „Geschlechteridentität“ seien zwei unterschiedliche Dinge. Wenn man die Dinge durchdenke, so Butler, so deutet viel „auf eine grundlegende Diskontinuität zwischen den sexuell bestimmten Körpern und den kulturell bedingten Geschlechteridentitäten hin (…) Selbst wenn die anatomischen Geschlechter in ihrer Morphologie und biologischen Konstitution unproblematisch als binär erscheinen“ – etwas, was ohnehin auch nicht so klar ist –, „gibt es keinen Grund für die Annahme, dass es ebenfalls bei zwei Geschlechtsidentitäten bleiben muss“. Überdies sind die konventionellen Geschlechteridentitäten nicht ohne der Vorstellung der Heterosexualität als Norm zu denken. Die Frau, die zur Frau gemacht wird, wird dazu in einem Verhältnis der Relation gemacht, auf deren anderen Seite das heterosexuelle männliche Begehren steht.

Wenn der „alte“ Feminismus noch die Identität „der Frau“ hochhielt, und gewissermaßen die Befreiung dieser Frau forderte, so macht Butler dieser Idee einen Strich durch die Rechnung, indem sie sagt: die Frau existiert doch gar nicht. Das ist auch der Grund dafür, dass der 70er-Jahre-Feminismus der lila Latzhosenfraktion auf die neue Theorie etwas gereizt reagierte, weil diese die Frau, ihre Körperlichkeit und alles, was damit zu tun hat, hochhielt.

Mit Theorien dieser Art kam eine Spielart von Identitätspolitik auf, die Identitätskritik zugleich ist, und deren Bruchstücke heute jede rebellische Gymnasiastin kennt – wenngleich eher in popularisierter Form. Ein raffiniertes Geflecht von Bedeutungen: Identitätspolitik heißt, dass das „Ich“ ins Zentrum rückt, Identitätskritik heißt, dass die Idee einer irgendwie klaren, fixen, essentiellen, gar fremdbestimmten Identität zurückgewiesen wird. Butler selbst spricht von der „Verdinglichung der Geschlechterbeziehungen“.

Wir sind Gesellschaft

Margaret Thatcher sagte einmal, so etwas wie eine Gesellschaft gäbe es nicht, es gäbe nur Individuen und deren Familien. Das war nicht nur ein neoliberaler Kampfslogan, es war auch eine dramatisch dumme Aussage. Eigentlich ist das Gegenteil wahr: Individuen gibt es nicht.

Wir bilden uns viel ein auf unsere persönliche Einzigartigkeit und dass wir das, was wir unsere Identität und unser Ich nennen, selbst erschaffen. Aber wir sind natürlich im Guten wie im Schlechten einfach Produkt der Verwobenheiten, in die wir eingespannt sind. Was wir an Gutem erreichen, verdanken wir den Umständen, und was uns behindert und niederdrückt ist auch nur selten unsere persönliche Beschränktheit. Was wir sein wollen – unser Selbstbild – kommt nicht aus unserem Inneren, sondern aus dem Fundus aus Selbstbild-Angeboten, die uns umgeben, und oft sogar aus den ausgetreten Pfaden und Konventionen, in die wir hineingezwungen werden. Es gibt nur Personen, die durch Gesellschaft zu dem gemacht werden, was sie sind. Überspitzt gesagt zumindest. Natürlich sind wir auch zugleich Co-Autoren unseres Ich.

All das ist wahr und die verschiedenen, heute so umstrittenen Theorien haben uns viel über diese Conditio Humana zu sagen. Wir sollten sie, wie gesagt, nicht wie das Kind mit dem Bade ausschütten. Zugleich ist natürlich ebenso wahr: Radikalismus und Übertreibungen sind nie gut. Exaltiertheiten, die die Bildung von Allianzen verunmöglichen, sind die Pest. Gleiches gilt für Sektierertum, das verunmöglicht, mit anderen ins Gespräch zu kommen. Wenn legendäre Denkerinnen völlig entgleisen, ist das schmerzhaft mitanzusehen.

Betrachte ich die Videoclips von Judith Butlers umstrittenen Wortmeldungen und konzentriere ich mich nicht nur auf das Gesagte, sondern auch auf Körpersprache und Mienenspiel, dann habe ich immer den Eindruck, eine Frau zu sehen, die Angst hat. Angst davor, etwas Falsches zu sagen. Sie ahnt schon, dass das, was sie jetzt sagt, ihr wieder einen Sturm der Entrüstung einträgt. Aber es gibt noch eine andere Angst, die sie möglicherweise dazu bringt, das zu sagen, was sie sagt. Die Angst vor dem Verlust des eigenen Resonanzraums. Die Angst, sich vor ihrem eigenen Publikum in die Nesseln zu setzen, das eigentlich kein Publikum ist, sondern ein Aktivistenmilieu, das sie zu brauchen glaubt, eine Anhängerschaft. Auch das ist gewissermaßen mit der Theorie eng verwoben. Theorien wie die von Butler glauben nicht an ein Wissen, das unabhängig vom Standpunkt ist. Aktivismus und Denken sind nicht getrennt, sondern verbunden. Das hat seine Stärken, aber auch seine Schwächen und eine tödliche Gefahr: Die denkende Aktivistin hat Panik davor, die Aktivistenmilieus zu verlieren, wenn sie etwas sagt, das diesen nicht passt. Daraus erwächst, was für Intellektuelle die wahrscheinlich größte Gefahr ist. Nicht Feigheit vor dem Feind, sondern Feigheit vor dem Freund. Würde sie die Hamas verurteilen, hätte sie ein Problem mit Teilen der eigenen Milieus, und dem versucht sie aus dem Weg zu gehen. Ich glaube, das zu sehen und zu spüren, und kann mich da natürlich irren. Aber genereller gesprochen ist das ein kaum zu leugnender Aspekt: Während der „freischwebende Intellektuelle“ an seiner Isolation leidet und an seiner Getrenntheit von konkreter Praxis, läuft der „organische Intellektuelle“ stets Gefahr, seiner Aktivistenmilieus nach dem Mund – und sich dabei um Kopf und Kragen zu reden.

Oder anders gesagt: Die Revolution frisst ihre Mütter.

Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Robert Misik

    Robert Misik ist einer der schärfsten Beobachter einer Politik, die nach links schimpft und nach rechts abrutscht.

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