3.000 Kilometer entfernt
Shaher Alyousef gründete eine Schule in einem Flüchtlingscamp an der türkisch-syrischen Grenze. 2015 flüchtete der Sportlehrer nach Österreich. Jetzt bildet er die dortigen Lehrer per Videotelefonie aus.
Wien, 24. Jänner 2022 | “Das ist Ibrahim, das sind Hulud und Achmed und da hinten ist Khaled.” Der Mauszeiger huscht über das Foto, die Kindergesichter hinter den bunten Tischen strahlen in die Kamera – ein deutlicher Kontrast zu den grau verspachtelten Wänden im Hintergrund. Shaher Alyousef weiß fast alle Namen dieser Kinder, auch wenn er die meisten davon nur von Fotos kennt. „Sie schauen glücklich aus“, stellt der 32-Jährige mit einem stolzen Grinsen fest.
“Wir haben ein paar Zelte hingestellt und haben angefangen”
Er trägt Jeans und hat kurze schwarze Haare. Wenn er von den Kindern und der Schule spricht, in der sie sitzen, dann leuchten seine dunklen Augen. Die Schule befindet sich rund 3.000 Kilometer entfernt in Atama, einem Flüchtlingscamp an der Grenze zwischen Syrien und der Türkei. Knapp eine Million vertriebene Menschen harren dort seit Jahren aus. Während der drei Jahre, in denen er und seine Familie selbst im Camp lebten, baute Alyousef die Schule gemeinsam mit anderen Lehrern auf. Heute entwickelt er zusammen mit dem Verein “Gablitz hilft” das Projekt von Österreich aus weiter.
„Dort sind so viele Kinder, die nicht lesen und schreiben können und wir wollten etwas für diese Kinder tun. Wir haben ein paar Zelte hingestellt und haben angefangen“, erzählt er von der Schulgründung im Jahr 2012. Ein Jahr später stand dort bereits ein richtiges Gebäude, bis heute hat es allerdings nur ein Wellblechdach. Alyousef kann sich noch genau erinnern, wie er die Wände ausmalte. Auf seinem Handy sucht er nach Fotos, mehrmals die Woche schicken ihm die Kollegen vor Ort, darunter auch sein Bruder, Bilder von ihren Fortschritten. Mit hundert Schülerinnen und Schülern haben er und seine Kollegen angefangen, jetzt sind es ungefähr 1.200, die die Schule besuchen. Auch einen Kindergarten gibt es.
Bilder aus der Schule im Atama-Camp (Bilder: zVg)
Wie die Montessori-Methode nach Syrien kommt
2015 musste der engagierte Sportlehrer nach Österreich flüchten. Seine Augen werden dunkel und ernst, und er verschränkt die Hände vor der Brust. Über diese Zeit will er nicht sprechen. Die syrischen Kinder wollte er aber nicht im Stich lassen. „Als ich in Traiskirchen war, habe ich eine Ärztin getroffen. Die hat mir von der Montessori-Methode erzählt und mir Bücher dazu gegeben.“ Er lernte Deutsch, fing an zu lesen und machte ein ehrenamtliches Praktikum in einer Montessori-Schule. Montessori ist ein pädagogisches Konzept, das sich auf die Begabungen und Bedürfnisse der einzelnen Kinder konzentriert.
Wenn Shaher Alyousef spricht, dann sitzt er sehr aufrecht, mit ruhigen Handbewegungen unterstreicht er das Gesagte. Zwischen Ernsthaftigkeit und freundlichem Lachen liegt manchmal kaum eine Sekunde. Neben seinem Vollzeitjob als Raumausstatter und Tapezierer unterstützt er mehrmals die Woche „PCs für alle“. Die NGO stellt denjenigen kostenlos Computer zur Verfügung, die es sich nicht leisten können. Und zusätzlich macht er dreimal die Woche eine Montessori-Ausbildung mit Diplom.
Feierabende gibt es für ihn aber fast nie, denn zweimal in der Woche setzt er sich spätabends noch vor den Computer und unterrichtet die Lehrer im Camp per Videotelefonie. Dafür übersetzt er das österreichische Montessori-Material auf Arabisch und versucht seinen Kollegen seine Ideen zu erklären. Denn er ist überzeugt: „Kinder, die im Krieg leben, brauchen so etwas wie die Montessori-Methode. Sie brauchen es, mit Material zu arbeiten und Spaß zu haben.“
“Ich hoffe, dass ich bald als Lehrer arbeiten kann”
Ob er überhaupt schläft? „Du siehst, wie dünn ich bin“, lacht er und deutet auf seinen Oberkörper, der in seiner schwarzen Winterjacke versinkt. „Ich schlafe zu wenig, vier Stunden am Tag. In der früh mache ich noch Hausaufgaben für die Ausbildung.“ Zeit für sich hat er fast nie, sagt er. Aber wenn er sie hat, dann verbringt er sie mit seiner Frau und seinen beiden Kindern, mit denen er in Wien lebt.
Seine Pläne für die Zukunft? „Wenn ich mein Deutsch noch verbessern kann, dann hoffe ich, dass ich hier als Lehrer arbeiten kann. Ich will mir und meiner Familie hier eine Zukunft aufbauen.“ Ob er die Schule im Camp Atama jemals wiedersehen wird, weiß er nicht. Er blickt aber optimistisch in die Zukunft: „Ich habe die Hoffnung, dass wir die Kinder gut ausbilden können. Und wer weiß, vielleicht können sie in Zukunft ja den Staat regieren“, sagt er und lächelt sein verschmitztes Lachen.
(sm/mst)
Wenn auch Sie das Projekt mit einer Spende oder einer Patenschaft unterstützen möchten, können Sie das hier tun.
Titelbild: ZackZack