Kommentar
Die ÖVP zerfällt in alle Einzelteile. Zu den Ermittlungen kommt jetzt auch der niederschmetternde Rechnungshof-Bericht dazu. Das beschleunigt den demokratischen Reinigungsprozess, aus dem die Partei als große Verliererin hervorgehen wird.
Benjamin Weiser
Wien, 10. Juni 2022 | Der Rechnungshof-Bericht 2019 wird der ÖVP und ihrem Kanzler den Rest geben. Die Partei hat vollen Zugang und Einsicht in die Prüfunterlagen zu gewähren. Erstmals wird ein Wirtschaftsprüfer in die Parteizentrale geschickt.
Bestimmte Wahlkampfkosten wurden möglicherweise verschwiegen, mutmaßlich unzulässige Spenden nicht als solche ausgewiesen. „Die Dokumente lassen die Angaben, die Wahlkampfkosten-Obergrenze wurde eingehalten, zweifelhaft erscheinen“, heißt es in einer ungewöhnlich deutlichen Aussendung des Rechnungshofs.
Ein Fiasko, dass sich angebahnt hat, denn seit knapp zwei Jahren versucht der Rechnungshof den Bericht der ÖVP zu prüfen und veröffentlichen zu können. Die Kanzlerpartei zögerte das explosive Schriftstück immer wieder raus. Damals als Generalsekretär verantwortlich für den Wahlkampf: Karl Nehammer. Der hat immer wieder betont, dass alles sauber gelaufen sei. Damit steht er erstmals im Zentrum einer der zahlreichen ÖVP-Affären.
Die erste ÖVP-Reaktion lässt vermuten, dass man in der Lichtenfelsgasse wieder mal unfähig ist, die Tragweite richtig einzuschätzen. Man sehe der Prüfung gelassen entgegen, außerdem habe man alle Kosten „lückenlos und korrekt“ angegeben.
Gleichzeitig zieht die SPÖ in allen Umfragen davon. Warum, wissen die Roten wohl selbst nicht. Fest steht: Noch nie war es so leicht, sich „durchzuscholzen“ – in Anspielung an den wortkargen deutschen Bundeskanzler, der die Bundestagswahl letztes Jahr vor allem aufgrund der Schwäche des CDU-Kontrahenten gewann. Dass der Abstand immer größer wird, ist auf den desolaten Zustand der Volkspartei zurückzuführen. Und der wird nicht besser werden.
Es ist zu erwarten, dass einige der laufenden Ermittlungsverfahren noch dieses Jahr Ergebnisse zeitigen werden. Man hört, die Parlamentsklubs bereiten sich schon seit einiger Zeit für Neuwahlen im Frühjahr 2023 vor. Der Termin könnte jetzt sehr schnell vorverlegt werden. Auch weil die ÖVP Niederösterreich wohl nicht tatenlos zusehen will, wie man die Absolute in der eigenen Herzkammer verliert. Dann lieber jetzt die Reißleine ziehen, bevor es noch weiter runtergeht.
Alle Experten wissen, dass der heutige Freitag nicht die letzte Politbombe für die ÖVP gewesen sein wird. Schmid-Chats, BMI-Chats, Ermittlungen, dazu die Uneinsichtigkeit der Parteiführung – all das beschleunigt den demokratischen Reinigungsprozess, aus dem die Kanzlerpartei als große Verliererin hervorgehen wird. Karl, das war’s!
Titelbild: APA Picturedesk