Staatsbürgerschaft
Dass mittlerweile ein Fünftel der österreichischen Bevölkerung nicht wählen darf, scheint der ÖVP egal zu sein. Die Staatsbürgerschaft müsse ein „hohes Gut“ bleiben. Wie lange hält das die Demokratie eines Landes, das eines der strengsten Einbürgerungsgesetze weltweit hat, aus?
Wien, 09. November 2022 | Das „strengste Staatsbürgerschaftsgesetz Europas“ feierte man damals als den großen Erfolg der ÖVP-FPÖ- und danach ÖVP-BZÖ-Regierung. Im Zuge der im Jahr 2005 durchgebrachten (auch die SPÖ stimmte damals mit) und 2006 in Kraft getretenen Novelle des Staatsbürgerschaftsgesetzes wurden die Hürden zur Erlangung der Staatsbürgerschaft zum letzten Mal deutlich erhöht, und bis heute nicht mehr aufgeweicht.
Seit der Novelle gelten die österreichischen Regeln als eine der strengsten weltweit. Vor allem im EU-Raum gibt es kaum ein Land, wo es schwerer ist, Staatsbürger zu werden. Das zeigt der internationale Migrations- und Integrationsindex.
Mehr Zuwanderung, weniger Einbürgerungen
Seit jeher war Österreich ein Zuwanderungsland, und das blieb es auch nach der Zeit von Schwarz-Blau und ihren Verschärfungen bei Asyl und Einbürgerung. Zwar war die Anzahl der Asylanträge in Österreich seit der Jahrtausendwende mal niedriger, mal höher. Die Zahl der Einbürgerungen wird durch die strengen Regeln, die ab 2006 galten aber stets niedrig gehalten.
Gab es im Jahr 2002 noch 14.672 Einbürgerungen, waren es 2019 nur noch 4.563, wie das Momentum Institut in einem Beitrag veranschaulicht. In den vergangenen zwei Jahren ist die Zahl der Einbürgerungen wieder angestiegen. Das aber auch aus jenem Grund, dass für Nachkommen von Opfern des NS-Regimes seit September 2020 die Möglichkeit einer Einbürgerung besteht, ohne dafür ihre bisherige Staatsangehörigkeit aufgeben zu müssen.
Dass Jahre später immer mehr Menschen in Österreich Schutz suchen und Asyl beantragen und auch aus anderen EU-Ländern immer mehr Menschen nach Österreich kommen, das konnten auch das schwarz-blaue Fremdenrechtspaket aus 2005 und zahlreiche schwarze Innenminister danach nicht verhindern. Trotzdem wich man bis heute nicht davon ab, den Zugang zur Staatsbürgerschaft und damit auch zum politischen Mitspracherecht für Zugewanderte oder Hier-Geborene der Folgegenerationen zu erleichtern.
Immer weniger Menschen wahlberechtigt
Und so entstand über die Jahre ein demokratisches Ungleichgewicht, das zuletzt bei der Bundespräsidentschaftswahl im Oktober sichtbar wurde. Mit 1,4 Millionen Menschen durfte bei dieser jeder Fünfte, der in Österreich lebt, nicht zur Urne schreiten. Bei steigender Bevölkerungsanzahl waren 36.128 weniger Menschen wahlberechtigt als bei der Stichwahl im Jahr 2016.
Die Zahl jener Menschen, die in Österreich leben und hier ihre Steuern zahlen, wegen fehlender Staatsbürgerschaft aber nicht wählen dürfen, wird also größer. Denn an demokratischen Prozessen darf man hierzulande nur teilnehmen, wenn man auch auf dem Papier Österreicher ist.
Die ÖVP zeigt sich davon jedoch unbeeindruckt. Die Staatsbürgerschaft müsse ein „hohes Gut“ bleiben, wie es aus allen Ecken der Volkspartei immer wieder heißt, ein zusätzlicher „Pull-Faktor“ sei zu verhindern, meinte erst vor wenigen Tagen ÖVP-Generalsekretär Stocker zur von der SPÖ Wien neu entfachten Debatte.
SPÖ will Erleichterungen
Diese will den Zugang zur Staatsbürgerschaft nun erleichtern. In der „Wiener Konferenz“ am Samstag hat man daher einen entsprechenden Beschluss gefällt. Es gehe darum, „den sozialen Gedanken einfließen zu lassen“, begründete Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) den Vorstoß. Die finanziellen und bürokratischen Hürden seien zu hoch.
Eine Erhebung vom Meinungsforschungsinstitut OGM kurz vor der Wahl Anfang Oktober hat zudem gezeigt, dass das Ungleichgewicht in Wien besonders hoch ist. Hier waren rund 500.000 Menschen, und damit ein Drittel der Bevölkerung, bei der Bundespräsidentschaftswahl nicht wahlberechtigt. In manchen Stadtvierteln war es gar mehr als die Hälfte. Dass viele von ihnen meist in Niedriglohnbranchen wie etwa in der Pflege arbeiten, daran erinnert auch Bürgermeister Ludwig. So sei es ungerecht, dass es gerade den Menschen, die in ihren Jobs vieles am Laufen halten, so schwer gemacht wird.
Für die meisten scheint es gar unmöglich. Die Staatbürgerschaft gibt es nämlich erst bei ununterbrochenem, zehnjährigem, rechtmäßigem Aufenthalt in Österreich. Für Ehepartner von Österreichern, im Inland geborene Personen und EWR-Staatsbürgern sind es sechs Jahre. Hinzu kommen Einkommenshürden, die es vielen Anwärtern unmöglich machen, die Staatsbürgerschaft zu bekommen.
Migrationsforscherin sieht Verzerrung von Wahlergebnissen
Für die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger von der WU Wien wäre ein leichterer Zugang in der heutigen Zeit angebracht: “Wenn man keine Staatsbürgerschaft, oder nicht einmal die Perspektive darauf hat, stellt sich schon die Frage, wie zugehörig man sich dem Land überhaupt fühlt”, meint sie im Gespräch mit ZackZack. Man wisse, wenn sich Menschen von der Mehrheitsgesellschaft abgelehnt fühlen, “werden sie umso anfälliger auf gegenteilige Tendenzen, wie Radikalisierung.”
Judith Kohlenberger ist Kulturwissenschafterin am Institut für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien (Bild: Christian Lendl)
Die migrantische Bevölkerung sei zudem generell “urbaner und jünger”. Dass ein großer Teil dieser Gruppe nicht wählen darf, würde das Wahlergebnis zu Gunsten der älteren und ländlichen Bevölkerung verzerren, so Kohlenberger.
Dass ein erheblicher Teil der jüngeren Bevölkerung bei den letzten Wahlen unterrepräsentiert war, kritisiert auch Alexander Ackerl, Vorsitzender der “Jungen Generation in der SPÖ Wien”, die die Anliegen junger Menschen auf die Agenda bringen will. Für ihn ist ein leichterer Zugang aber nicht nur eine moralische, sondern eine grundsätzliche Frage von Demokratie: “Real gesehen ist das Volk jeder, der hier seinen Lebensmittelpunkt hat. Die FPÖ und die ÖVP haben Angst vor dem Volk und dass dieses in seiner Gesamtheit repräsentiert wird.” Im Parlament dürften nicht nur die Interessen des Kapitals und jener Menschen, “die das Glück hatten, als Staatsbürger geboren worden zu sein”, vertreten werden, so Ackerl.
“Nur weil jemand Altenpflege macht, ist er ja nicht weniger wert”
Einig sind sich sowohl die Migrationsforscherin als auch der Politiker darin, dass die Gegebenheiten aber vor allem der vermögenderen Bevölkerung zu Gute kommt. Denn die Einkommenshürden, die ein Staatsbürgerschaftsanwärter nach Abzug der Fixkosten aufweisen muss, liegt je nach Gegebenheit zwischen 900 und 1.000 Euro im Monat – und das über einen Zeitraum von drei Jahren.
Reinigungspersonal, Pflegekräfte, Hilfsarbeiter oder Menschen, die im Handel oder in der Gastronomie arbeiten – viele dieser Branchen weisen einen zunehmend höheren Anteil von Menschen ohne Staatsbürgerschaft auf. Für die meisten von ihnen stellt das Überwinden dieser finanziellen Hürde ein Ding der Unmöglichkeit dar. So dürfen sie jahrelang hier leben, ihre Steuern zahlen und mit ihren oft systemerhaltenden Jobs alles am Laufen halten. Irgendwann mitreden zu dürfen, bleibt ihnen aber verwehrt.
Alexander Ackerl, Vorsitzender der “Jungen Generation”, bei einem Protest vor der ÖVP-Parteizentrale (Bild: Christopher Glanzl)
“Die Arbeiterklasse ist politisch immer weniger sichtbar, deren Interessen finden sich im Gesetzgebungsprozess nicht wieder. Das alles wirkt sich auch auf die Sprache und die Prioritäten der Politik aus”, ist Ackerl überzeugt. Auch Themen wie die Teuerung würden mit einer besseren Arbeitnehmervertretung anders abgehandelt werden. Es gehe sich heutzutage nicht mehr aus, so viele Menschen zu ignorieren. “Nur weil jemand Altenpflege macht, ist er ja nicht weniger wert.”
“Auch viele Österreicher würden das nicht schaffen”
Angesichts der hohen Einkommensgrenzen und der Teuerungskrise sei es mittlerweile so, dass auch viele österreichische Staatsbürger, die die Staatsbürgerschaft qua Geburt hier erhalten haben, es sich heutzutage nicht leisten könnten, die Staatsbürgerschaft zu bekommen, gibt Kohlenberger außerdem zu Bedenken.
Letztlich ist die Frage die, ob Österreich in Zukunft ein Land sein soll, wo sich alle, die hier leben und ihren Beitrag leisten, repräsentiert fühlen, auch eine des politischen Willens. Und wer von der Blockade profitiert.
(mst)
Titelbild: ZackZack/Christopher Glanzl