Friedliche Adventfeiern mit Gewalt-Videos auf Instagram und TikTok? In Zeiten des Krieges und Hasses kann man nur durch eine gewisse Geisteshaltung zurückfinden zu echter Toleranz und Frieden.
Gestern war der erste Advent und nun beginnt also die besinnliche Zeit des Jahres. Jene Zeit, in der wir uns auf das wesentliche konzentrieren sollten, auf das Miteinander, auf Zusammenhalt, auf Empathie, Solidarität, auf das Teilen und auf das aufeinander zugehen. Aber ganz ehrlich – merkt ihr irgendetwas davon? Bei all dem Leid, dass rund um uns geschieht? Und der Spaltung?
Religionen als Tischgespräch
Gestern Abend sind wir mit unseren Kindern am Tisch gesessen und haben die erste Kerze angezündet und über die letzten Tage gesprochen. Hauptthema: TikTok, Instagram und Co. Videos und Beiträge von Schulkolleginnen und Schulkollegen, die sich seit dem 7. Oktober massiv radikalisiert haben. Dem Anschein nach Religion gegen Religion. Christentum gegen Islam, Islam gegen Juden- und Christentum. Meine Kinder zeigen mir Videos, in denen auf ein Kreuz uriniert wird, Wohnhäuser mit Judensternen markiert werden, Apps gezeigt werden, bei denen man feststellen kann, welche Produkte Israel unterstützen und nicht gekauft werden sollten. Videos, in denen Frauen mit Kopftuch bespuckt werden. Postings, bei denen die brutalen Vergewaltigungen von israelischen Frauen und Kindern gerechtfertigt oder als Fake geleugnet werden. Andere Videos von verwesten Frühgeborenen, die einfach in Gaza auf der Intensivstation zurückgelassen wurden. Die Schuld daran wird natürlich wieder hin und her geschoben.
Und ganz ehrlich – ich kann das nicht mehr. Ich kann jenen nicht mehr zuhören, die jetzt schreien, man dürfe absolut keine Muslime mehr ins Land lassen, ich kann aber genauso wenig jenen zuhören, die laut schreien man müsse alle Seiten betrachten. Es überfordert mich. Es überfordert mich, meinen Kindern erklären zu müssen, weshalb Menschen so sind. Weshalb Menschen andere mit Genugtuung vergewaltigen, foltern und töten. Es überfordert mich, weshalb Menschen verlangen, sich für eine Seite zu entscheiden. Reicht es denn nicht mehr für Menschlichkeit zu stehen? Dafür, dass jede und jeder so leben darf, wie er oder sie es für richtig erachtet? Natürlich immer im Hinblick darauf, anderen nicht zu schaden? Sollte das nicht Konsens sein?
Ein Gebot für uns alle
Ich bin zwar getauft, aber weit davon entfernt, Christin zu sein. Doch das Gebot “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst” sollten wir alle viel mehr leben. Über alle Religionen, über alle politischen Differenzen hinweg. Es würde so vieles besser machen. Wann haben wir aufgehört, in Menschlichkeit zu denken? Und wann begonnen, anhand der Religion zu unterscheiden wer hier sein darf und wer nicht? Oder zu bestimmen, welche Religion die bessere wäre. Ja, ich weiß, uralte Debatte. Aber aktueller denn je. Denn meine Kinder erleben es aktuell ganz intensiv. Du bist Christin? Dann unterstützt du den Genozid an Muslim*innen. Du bist Muslimin? Dann unterstützt du den Genozid an Jüd*innen.
Nein! Mörder und Terroristen unterstützen und fördern das Vergewaltigen und Morden. Nicht Teenager, die einfach nur versuchen, diese Welt zu verstehen.
Doch solange sich Migrantinnen und Migranten bei uns nur als Menschen zweiter Klasse fühlen – und dieses Gefühl geben wir ihnen seit den 70ern – woher sollen diese Menschen ein Gemeinschaftsgefühl hernehmen? Eine Zugehörigkeit spüren? Wenn sie täglich Rassismus erleben, ausgegrenzt werden, und meist nicht mal wählen dürfen, obwohl sie hier geboren sind? Integration hat versagt, und das liegt nicht an den Betroffenen! Und dieses Versagen bekommen wir nun zu spüren, in dem sie sich an Identitäten klammern, die ihnen ein Zugehörigkeitsgefühl geben.
Integration war nie gewollt
Seit Jahrzehnten haben viele darauf hingewiesen, dass die Ausgrenzung und der Rassismus uns eines Tages auf den Kopf fallen wird. Aber auch unser stures, egoistisches “Wir sind hier geboren also haben wir mehr Rechte als Zugewanderte” hat einen erheblichen Teil dazu beigetragen, dass wir nun an diesem Punkt stehen. Menschen, die sich hier nicht willkommen fühlen, denen täglich gezeigt wird, dass sie nur “geduldet” sind, suchen verständlicherweise etwas zum Festhalten. Manche Parteien schlagen daraus sogar Kapital, dass Integrationsbaustellen nie gelöst werden, und haben deshalb gar kein echtes Interesse daran.
Nach den Videos und Postings von gestern Abend habe ich meine Kinder gefragt, wie sie damit umgehen, wie sie mit direkten Konfrontationen oder in Postings antworten. Und ich denke, besser als ihre Antwort gestern kann man es nicht machen: “Ich stehe für Menschlichkeit, für ein Miteinander, dafür, dass wir uns so akzeptieren wie wir sind”. Das sollten wir uns alle viel mehr zu Herzen nehmen.
Titelbild: Christopher Glanzl