Samstag, Juli 27, 2024

Wohin wir gehen

Auf allen Ebenen werden die Bewegungen für Gleichheit und Frieden heute bekämpft. Dieser Feldzug zeigt starke Analogien zu den Vorgängen in den USA zwischen 1893 und 1919.

Teil 1

Im Musiktempel der panamerikanischen Ausstellung in Buffalo, New York, gab am 6. September 1901 ein Mann zwei Schüsse auf den amerikanischen Präsidenten William McKinley ab, der acht Tage später starb. Der Attentäter, Leon F. Czolgosz, gestand die Tat. Er wurde am 26. September 1901 zum Tode verurteilt und in das Auburn Prison überstellt.

Schon am 20. September hatte die New York Times berichtet, dass sich über hundert Personen angemeldet hatten, um im Falle einer Verurteilung zum Tode der Exekution Czolgoszs beiwohnen zu dürfen. Der Filmproduzent Edwin S. Porter stellte nach Festsetzung des Termins für die Hinrichtung den Antrag, diese filmen zu dürfen. Die Behörden lehnten ab. Leon Czolgosz starb am 29. Oktober am elektrischen Stuhl. Für den Film Die Hinrichtung Czolgoszs mit einem Panorama des Auburn Gefängnisses wurde die Exekution von Schauspielern nachgestellt. Der dreiminütige Streifen mit der nachgespielten Hinrichtung ging durch das ganze Land und kaum jemandem, der ihn sah, war bewusst, dass er nicht den wirklichen Czolgosz sah.

Nach der Börsenkrise 1893

Grund für die breite mediale Ausschlachtung der Hinrichtung war folgender: Der Börsencrash vom 5. Mai 1893 hatte eine vierjährige Wirtschaftskrise ausgelöst. Viele Arbeiter, darunter auch Czolgosz, verloren ihre Anstellung und verarmten. Sie organisierten sich in verschiedenen Kreisen. Eugene Debs von der SPA (Socialist Party of America) gründete die großen Gewerkschaften der Industriearbeiter und der Eisenbahner.

Aber es gab auch Arbeiter, die mit den Sozialisten unzufrieden waren und sich den Anarchisten zuwandten. Vor allem die Anarchistin Emma Goldman war seit dem Haymarket Riot, der in der Hinrichtung vier amerikanischer Anarchisten gipfelte, Staatsfeindin Nr. 1 geworden. Regelmäßig brachte die Presse Artikel, die ihr eine Beteiligung am Attentat an McKinley unterstellten, weil Czolgosz einen ihrer Vorträge besucht hatte und danach mit ihr kurz gesprochen hatte. Tatsächlich konnte eine Beteiligung Goldmans niemals nachgewiesen werden.

Zuerst die Anarchisten, dann die Sozialisten

Das änderte nichts am Feldzug der Presse: Einhellig wandte man sich gegen Personen, die Kapitalismus und Militarismus bekämpften, kürzere Arbeitszeiten und Frauenrechte forderten. Emma Goldman wurde mehrmals verhaftet. Mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg wurden Anarchisten im Verlauf der Palmer Raids polizeilich verfolgt. Der Anarchist Exclusion Act wurde beschlossen, um ihnen die Einreise in die USA zu verweigern. In den USA ansässige Anarchisten wurden ausgewiesen.

1919 wurde Emma Goldman abgeschoben. Nun wandte sich die Regierung, die seit 1913 vom Demokraten Woodrow Wilson geführt wurde, der Verfolgung der Sozialisten zu. Wegen einer Rede gegen die Kriegsteilnahme der USA und gegen Präsident Wilson wurde Arbeiterführer Eugene Debs 1918 zu zehn Jahren Haft verurteilt.

Antisozialismus

Ich erzähle das ausführlich nach, weil ich der Meinung bin, dass die Vorgänge in den USA mit hundertjähriger Verspätung in Westeuropa stattfinden. Hier begann die Zerschlagung von Solidarität und Pazifismus im Jahr 1989. Im Dezember 1989 schrieb Peter Rühmkorf in seinem Tagebuch: »Wenn der Antikommunismus nicht mehr beißt (greift), wird man zum Antisozialismus übergehen.«

Rühmkorfs prophetische Worte zeigen, wohin wir gehen. Die Anfeindung von Solidarität und Pazifismus rückt – wie das politische Spektrum – nach rechts: Zuerst bekämpft man Kommunisten, dann Sozialisten und heute Sozialdemokraten und Gewerkschaften. Deren Zerschlagung und Delegitimierung verdankt sich verschiedener Mechanismen. Ich führe die wichtigsten drei an.

Erstens – Vorherrschaft konservativ-reaktionärer Presse

Die Hegemonie konservativ-reaktionärer Presse ist in Österreich längst gefestigt. Spätestens seit der Regierung Kurz I gibt es kein nennenswertes (und vor allem kein staatlich gefördertes) Medium mehr, das als progressiv bezeichnet werden könnte oder unabhängig über Solidarität und Pazifismus berichtete. Dass die Sozialdemokratie ihre Medien aufgegeben hat (Arbeiter-Zeitung, aber auch regionale Medien) war ein unverzeilicher Fehler.

Das Messen mit zweierlei Maß

Zweitens – Entmachtung von solidarischen Bewegungen und Gremien

Arbeiterkammer und Gewerkschaften, aber auch die Sozialpartnerschaft werden konsequent torpediert, delegitimiert, lächerlich gemacht und – wo es möglich ist – von Entscheidungen ausgeschlossen. Das zeigt sich z.B. daran, dass die konservativ-reaktionäre Presse über das Polo-Shirt des Gewerkschaftspräsidenten berichtet, das dieser beim Besuch des Bundespräsidenten trug, und nicht darüber, was die beiden diskutiert haben. Die Entmachtung der Sozialpartnerschaft durch die Schwarz-Blaue und Schwarz-Grüne Regierung in den letzten sieben Jahren ist evident.

Drittens – Marginalisierung von Pazifismus, Anti-Militarismus und Neutralität

Das politische Programm der sogenannten »Abschaffung der Neutralität« (die in Wahrheit nicht durch eine Regierung, sondern nur durch den Nationalrat geschehen kann) und eines – meist damit in einem Atemzug genannten – NATO-Beitritts ist von rechts in die sogenannte Mitte gewandert. Die erste Partei, die diese Forderung stellte, war die FPÖ, nachdem Jörg Haider 1986 ihr Parteiobmann geworden war. Seither ist vor allem seit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine überall im Land Kriegsgeschrei zu hören: Die FPÖ hat sich darauf verlegt, prorussisch zu argumentieren und gleichzeitig ihre Meinung über die »Abschaffung der Neutralität« revidiert – ein Wirrwarr. Die ÖVP schwankt ebenfalls, während ihr früherer Innenminister und derzeit Erster Nationalratspräsident in Moskau neben einem heute gesuchten Verbrecher saß, der mithilfe von Ex-Mitarbeitern des österreichischen Verfassungsschutzes für Russland Spionage betrieb. Kein Minister oder Nationalratspräsident der SPÖ wäre nach solchen Enthüllungen einen einzigen weiteren Tag im Amt. Das ist es, was in diesem Land heute am meisten stört: Das Messen mit zweierlei Maß.

Die Radikalisierung des Bürgertums

Anstrengungen einander Bekriegende auf neutralem Boden zu Gesprächen zusammenzuführen, wie es Österreich in den 1970ern und 1980ern in großem Stil getan hat, werden lächerlich gemacht. Die Radikalisierung des Bürgertums ist augenscheinlich. Ungeniert fordern Schriftstellerinnen und Schriftsteller heute Waffenproduktion und Waffenlieferungen an Kriegsführende. Sogar ein ORF-Anchorman, ein Top-Politjournalist, postet, dass die österreichische Neutralität von der UdSSR erzwungen worden war, wo sie doch in Wahrheit vom Nationalrat des freien Österreich, also nach der Beendigung der sogenannten Besatzung, verabschiedet wurde und keine alliierte Macht noch Sanktions- oder Eingriffsmöglichkeiten hatte. Fake-News also.

In den weiteren Teilen dieses Artikels, werde ich auf jede einzelne dieser Fragen eingehen, aber auch versuchen, zu zeigen, dass es andere Wege der Behauptung und Durchsetzung gibt und dass es sich lohnt für Solidarität und Pazifismus zu kämpfen. Rühmkorf hat geahnt, wohin wir gehen. Doch vielleicht lässt es sich aufhalten …


Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Daniel Wisser

    Daniel Wisser ist preisgekrönter Autor von Romanen und Kurzgeschichten. Scharf und genau beschreibt er, wie ein Land das Gleichgewicht verliert.

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