Samstag, Juli 27, 2024

Kein Feuerwerk, kein Feuerbach

Statt eines Jahresrückblicks oder einer Vorschau auf 2024: Die Regale, in denen früher Hoffnung und Optimismus angeboten wurden, sind leer. Macht nichts! Ich mache mir meine Hoffnungen selber.

Im vergangenen Jahr habe ich unter dem Titel So wird es gewesen sein anstatt eines Jahresrückblicks eine Vorschau auf das Jahr 2023 gebracht. Dieses Jahr unterlasse ich es: Die Realität hat sich leider nicht an meine Vorgaben gehalten.

In den Feuilletons, in Gastbeiträgen von Philosophinnen und Kommentatorinnen lese ich überall von der Verelendung von Hoffnung, Glaube und Vertrauen. Solche Artikel kann man dieser Tage wahrscheinlich schon mit KI-Writern generieren. Ich lese meistens ein oder zwei Absätze davon und lasse es dann sein. Warum soll ich das lesen? Warum soll ich es hinnehmen, dass mir jemand im Grunde – getarnt als Befund der gegenwärtigen Situation – zuruft: »Die Zeit, in der du lebst, ist scheiße!«

Ein Tag folgt dem anderen

Es ist heute sogar üblich, zum Verfassen solch fatalistischer Sinnlosbefunde aufzurufen. Wettbewerbe werden ausgeschrieben, die Motti vorgeben wie: Gesellschaft im Wandel. Wann war denn die Gesellschaft nicht im Wandel? Christian Morgenstern hat sich schon vor mehr als einem Jahrhundert darüber lustig gemacht. Er schrieb: »Wir leben in einer bewegten Zeit. Ein Tag folgt dem andern, und neues Leben sproßt aus den Ruinen.«

Die Menschen litten, so lese ich, unter Krieg, Teuerung und der Zerstörung der Umwelt. Und ich frage mich: Leiden nicht die Menschen, die heute in einem Krieg sterben, verletzt oder vertrieben werden, ein wenig mehr unter diesem Krieg, als jene, die trotz ihres Leidens darunter, einen Artikel darüber verfassen und publizieren können? Wäre es nicht an der Zeit, angesichts der Erkenntnisse zu Taten zu schreiten? Seltsamerweise unterbleiben diese Taten nicht nur, sondern das Engagement für Frieden, für die Opfer von Krieg, Hunger und Vertreibung und das Engagement für den Umweltschutz sind heute stark rückläufig. Was stört uns also an unserer Zeit? Wir selbst sind die Störung.

Der zufriedene Burger

Ist es nicht in Wahrheit so, dass eine große Mehrheit der Bürger zufrieden damit ist, sagen zu können, dass es anderen schlechter geht? Heimlich laufen sie in ein sogenanntes Fast-Food-Restaurant, bestellen einen Burger und beißen hinein, wie ihnen das der Kanzler aufgetragen hat. Sind sie nicht auch mit diesem Kanzler zufrieden und signalisieren damit allen kommenden, aufsteigenden und werdenden Politikerinnen und Politikern, dass sie mit noch viel unfähigeren, intellektuell noch viel armseligeren und noch viel ideenloseren Kanzlern in der Zukunft ebenfalls zufrieden sein werden?

In Zeiten wie diesen, in denen ein Tag auf den anderen folgt, hat ein Jahresrückblick vermutlich zu wenig individuellen Zuschnitt – und erst recht eine Vorschau auf das nächste Jahr. Die sehr sehr alte Botschaft, dass der Einzige ohnehin nichts verändern kann, die damit verbundene Quasi-Aufforderung zum Rückzug aus dem politischen Denken und Handeln, ist die Botschaft autoritärer Systeme, in denen natürlich sehr wohl etwas geschieht, was Veränderungen bewirkt.

Politik braucht Ideologie

Die positive Bewertung von ideologiebefreiter Politik, von der man heute immer wieder liest, ist ja in Wahrheit nur die Bekräftigung einer bestimmten Ideologie, die alle anderen Ideologien bekämpft. Wenn heute jemand sagt, die Kategorien links und rechts gäbe es längst nicht mehr, dann ist dieser jemand ein Rechter. Punkt.

Ganze Weltanschauungen und Ideologien sind aus unserem öffentlichen Leben verschwunden. So wie sie verschwunden sind, wird auch die Kultur, der progressive Geist in Literatur, Musik und Kunst, verschwinden. Sie wird kleiner werden, belächelt werden und bald wird man feststellen, dass sie niemand braucht, weil »niemand sie will«. Das ist eben die Hegemonie von Kommerz und Kapitalismus, die beweisen können, dass alle Menschen nur sie wollen, wenn es einfach nichts mehr anderes gibt.

Wir brauchen Ideologie

Politik braucht Ideologie. Wir brauchen Ideologie. Das Bild von einer Gesellschaft, die wir sein wollen, hängt davon ab, wie wir selbst sind. Auch und sogar der Gottesbegriff. Ludwig Feuerbach schrieb: »So wie der Mensch aus einem nur physischen Wesen ein politisches, überhaupt ein sich von der Natur unterscheidendes und auf sich selbst sich konzentrierendes Wesen wird, so wird auch sein Gott aus einem nur physischen Wesen ein politisches, von der Natur unterschiedenes Wesen

Anstatt eines Jahresrückblicks stelle ich also Fragen für 2024: Sollten wir nicht damit beginnen, in den Kriegen dieser Welt als Vermittler aufzutreten und auf diplomatischem Wege Gespräche zwischen den Konfliktparteien auf den Weg zu bringen und die Einstellung der Kampfhandlungen zu erwirken? Sollten wir angesichts der rasenden Teuerung in Österreich nicht jenen Menschen, die ernsthaft in Schwierigkeiten sind, helfen, wieder auf eigenen Beinen zu stehen und so auch wieder optimistischer zu werden? Sollen wir Umweltschutz weiterhin nur als einen Anlass für Plakatsprüche halten oder doch endlich die zum Vorbild nehmen, die aktiv auf die Probleme, die wir haben, hinweisen, anstatt sie zu Terroristen zu erklären?

Kraft für den Kampf

Nein, das alles geht nicht. Ja, das alles ist naiv. Wenn die Menschen kein Brot haben, dann sollen sie eben Burger essen. Der österreichische Kanzler hat mit seinem Marie-Antoinette-Zitat bewiesen, dass er kein Demokrat ist. Wusste ich schon vorher. Wenn die Demokraten dieses Landes die Demokratie in diesem Land erhalten wollen, werden sie sich zusammentun müssen. Sonst tun sie das, was allen faschistischen Systemen den Weg geebnet hat: Eine größere Mehrheit fraktioniert sich und macht damit einer kleineren Mehrheit Platz.

Es wird ein Jahreswechsel ohne Feuerwerk und Feuerbach. Trotzdem möchte ich mir nicht zurufen lassen: »Die Zeit, in der du lebst, ist scheiße!« Man hat nur ein Leben. Zeit ist kostbar. Es gilt, etwas daraus zu machen, auch wenn man in einer Gesellschaft lebt, die versucht, einem die Wege zu versperren. Dagegen gilt es zu kämpfen. Ich wünsche allen, die etwas vorhaben, die etwas tun wollen, auch im Jahr 2024 Kraft für diesen Kampf.

Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Daniel Wisser

    Daniel Wisser ist preisgekrönter Autor von Romanen und Kurzgeschichten. Scharf und genau beschreibt er, wie ein Land das Gleichgewicht verliert.

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