Freitag, April 26, 2024

Fehldiagnose Polarisierung

Unsere Gesellschaft ist gar nicht so gespalten, wie viele denken. Ein paar wenige Triggerthemen führen zu hysterischer Aufgeregtheit.

Wer politisch etwas in einer Gesellschaft zum Besseren verändern will, braucht nicht nur ein ungefähres Ziel, sondern auch ein einigermaßen akkurates Bild von den Zuständen der gegenwärtigen, also zu verändernden Gesellschaft. Und von den hegemonialen Meinungen in dieser Gesellschaft. Bekannt ist das Paradoxon: Auch wenn man vorherrschende Meinungen verändern will, tut man gut daran, sich von diesen nicht allzu weit zu entfernen. Von Bruno Kreisky stammt der berühmte Ausspruch, dass man Umstände keineswegs hinnehmen, aber unbedingt zur Kenntnis nehmen muss.

Heute ist häufig von der „gespaltenen Gesellschaft“ die Rede, die fürchterlich „polarisiert“ sei. Im vergangenen Herbst sorgte allerdings eine große Studie der drei Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser für Aufsehen, die diese Diagnose auf Basis tiefgehender empirischer Untersuchungen in Frage stellte. Kurzum: Das, was die Menschen in Deutschland so denken, ist gar nicht so polarisiert. Die Gesellschaft ist gar nicht gespalten. Zusammen mit dem österreichischen Sora-Institut haben sie jetzt auch dessen Demokratiemonitor mit ihren eigenen Thesen abgeglichen, und das Ergebnis ist für Österreich nicht sehr viel anders.

Folgt man den Wortmeldungen in den Sozialen Medien und in Kommentarspalten, dann hat man natürlich einen gänzlich anderen Eindruck, und mitunter wird der auch durch die Diskurse in den klassischen Medien gestützt. Pole knallen aufeinander. Wer laut schreit, bekommt alle Aufmerksamkeit. Gereiztheit nimmt zu. Rechte Scharfmacher spielen auf der Klaviatur, etwa mit vorsätzlicher, provozierender Arschlochhaftigkeit. Aber zwischen dem Geschrei der Pole ist das große, breite Feld der normalen, ganz vernünftigen Leute. Hier gibt es teilweise sogar mehr Konsens als noch vor dreißig, vierzig Jahren, so das erstaunliche Fazit der Forscher. Etwa, was die Zustimmung zum Sozialstaat, zu Gerechtigkeitsnormen betrifft, aber auch viele andere Fragen. Beispielsweise: dass man Zuwanderer anständig behandeln soll, dass dazugehört, wer lange genug dazugehört. Dass niemand diskriminiert werden soll, sei es wegen Geschlecht, Herkunft, Religion, sexueller Orientierung. Aber dass man es mit der Wokeness auch nicht übertreiben soll. Mancher meint wohl, beispielsweise: Man soll selbstverständlich so sprechen, dass sich alle in der Art der Rede inkludiert fühlen und niemand gekränkt ist, aber zugleich soll mir auch niemand vorschreiben, wie ich zu sprechen habe. Auch in der Beurteilung der Klimakatastrophe und der moralischen Imperative, die daraus folgen, herrscht ein weitgehender Konsens innerhalb eines gewissen Korridors. Ebenso dürfte in dieser breiten Mitte die Meinung ziemlich konsensual sein: Die Zuwanderer gehören hier dazu, man soll ihnen nicht mutwillig Steine in den Weg legen, aber zugleich soll man Kriminelle, Banditen und Islamisten besser wieder loswerden.

Wer gehört dazu? Wer soll draußen bleiben?

Die schnell erzählte These von „Gesinnungsklassen“ und einander feindlich gesinnten „Lagern“ weisen die Forscher entschieden zurück. „Die Autoren“, formulierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung, „ziehen Ungleichheitskonflikte heran, also Auseinandersetzungen, in denen es um Begünstigung und Privilegierung einiger und der Benachteiligung und Diskriminierung anderer geht, um Lebenschancen, Ressourcen, Rechte und Anerkennung. Wer soll gerechterweise wie viel bekommen? Wer gehört dazu, wer soll draußen bleiben? Was schulden wir den nach uns Kommenden?“

Das Urteil der Forscher ist eindeutig: „Man versteht das Land und seine Politik besser, wenn man begreift, dass ‚Middle of the road‘-Positionen und nicht zugespitzte Meinungen besonders politisierter Gruppen die Grundhaltungen der Mehrheit prägen – allen Sorgen um das Erstarken des Rechtspopulismus zum Trotz.“

Man könnte also folgendes Bild einer Gesellschaft zeichnen: Es gibt radikale Ränder, vor allem die Aufgansler der extremen Rechten. Deren Geschrei scheint die öffentliche Debatte zu dominieren, doch die breite Mitte der Vernünftigen ist davon zunehmend genervt. Spricht man zu ihr, gibt man ihr eine Stimme, dann wird man leicht Mehrheiten finden für, sagen wir einmal: eine maßvolle, progressive Vernünftigkeit.

Aufregerthemen

Das ist sicherlich nicht falsch gedacht, aber möglicherweise sind die Dinge auch komplizierter. Die Forscher sprechen von „Triggerpunkten“, die trotz weitgehendem Konsens von Vernünftigkeit die Gereiztheiten und das Gegeneinander anspringen lassen können. Deswegen, beispielsweise, taugt das an sich ja völlig unbedeutende „gendern“ als Aufhusser-Thema. Diese „Triggerpunkte“ können sogar die gelassene Mehrheit extrem emotional reagieren lassen. Ein paar so „Trigger“, und man hat Kulturkämpfe, sogar mit einer Gesellschaft ohne „affektive Polarisierung“. Vor allem, wenn sie von Wutbewirtschaftungsunternehmern und Kulturkampfprofiteuren geschürt werden.

Ganz unwissenschaftlich, aber durch die Beobachtung der Welt hat sich bei mir in den vergangenen Monaten aber noch eine andere Einsicht verstärkt: Womöglich hilft es für ein akkurateres Verständnis unserer Zeit, wenn man sich mit dem Gedanken anfreundet, dass Menschen vernünftig und fanatisch zugleich sein können, sowohl besonnen als auch radikalisiert.

Gelegentlich schaue ich mir die Social-Media-Accounts von Leuten an, die ich ein wenig, aber auch nicht allzu sehr kenne, die im Allgemeinen relativ vernünftige Meinungen haben und meist ein Gespür für die Kompliziertheit der Welt. Und gelegentlich wundere ich mich.

Selbstradikalisierung der Vernünftigen

Denn auch die geraten dann bei einzelnen Themen in einen Tunnel der Selbstradikalisierung hinein. Dabei müssen sie nicht einmal extremistische oder unvernünftige Meinungen entwickeln. Nur ein paar Beispiele: Die einen sind extrem erschüttert vom bestialischen Massaker der Hamas. Die anderen sind extrem erschüttert von Massensterben in Gaza und der Brutalität der israelischen Kriegsführung. Andere sind extrem verängstigt über die Aussichten der Klimakatastrophe. Wieder andere waren während der Pandemie für weitreichende Schutzmechanismen, und wenn die nicht in allen Zeiten verhängt wurden, dann hielten sie das quasi für einen vorsätzlichen Mordversuch böswilliger Gesundheitsminister. Manche haben äußerst starke Meinungen zu der Frage, ob Transfrauen biologisch Frauen sind, und, falls ja oder nein, was denn daraus folgen würde. Wir könnten hier noch viele andere Beispiele anbringen. Gemeinsam ist diesen Meinungen ja, dass sie keineswegs irre Auffassungen sind, sondern im Gegenteil, oft sehr viel Vernünftigkeit auf ihrer Seite haben. Der Angriff der Hamas war ja tatsächlich bestialisch. Die Bedrohungen, die Juden und Jüdinnen überall empfinden, sind ja tatsächlich vorhanden. Das Gemetzel in Gaza ist ja tatsächlich schrecklich. Die Aussichten auf die Klimakatastrophe sind ja tatsächlich fürchterlich und werden noch immer viel zu oft ignoriert, und eine potenziell sehr tödliche Krankheit soll man ja tatsächlich so weit wie möglich eindämmen. Menschen, die unter ihrer Gender-Identität leiden, sollte man ja tatsächlich nicht auch noch zusätzlich diskriminieren oder ihnen das Leben schwer machen.

Aber spätestens, wenn die Leute dann aufgeregt und obsessiv dreißig oder hundert Postings täglich absetzen, im Minutentakt Links zum Thema verbreiten, und zunehmend von besonders parteiischen Quellen mit schrägem Bias, dann weiß man: Sie beschäftigen sich jetzt völlig besessen mit dieser einen Sache, sie lässt sie nicht mehr los. Sie betreiben sogar das Vernünftige auf unvernünftige Weise. Je mehr empörenswerte Sachverhalte sie dabei in Erfahrung bringen, umso empörter werden sie selbst. Sie sind in einem Tunnel der Selbstradikalisierung. Es hat etwas Rauschhaftes. Sie sind quasi nicht ins Rabbit-Hole, sondern ins „Madness-Hole“ gefallen. Wenn man nur mehr mit einer Meinung „beschossen“ wird, und zwar mit immer mehr Schocknachrichten, die die Meinung stützen, die man sowieso schon hat, dann wird ein Bias, den man zuvor schon hatte, in eine groteske Einseitigkeit radikalisiert. Die Emotion schlägt dann schnell die Vernunft. Salopp gesagt: Man muss nicht dumm sein, um zu vertrotteln. Es reicht schon, wenn man in einer Selbstbestätigungs-Spirale überdreht.

„Hysterische Aufgeregtheiten“

Was ich daran interessant finde: Dass man auf vernünftige Weise irre und radikal werden kann. Gewissermaßen: Man muss nicht an Ufos, Fake-News oder Verschwörungstheorien glauben, um durchzuknallen. Ja, wahrscheinlich schaffen es die Menschen sogar, bei einem Großteil der Themen vernünftig zu bleiben, während sie bei ihrem gerade angesagten Besessenheits-Thema völlig durchdrehen.

Nicht alle diese individuellen Faibles sind gleich „Triggerpunkte“, die für die gesamte Gesellschaft etwas auslösen. In Summe entsteht eher ein „Wimmelbild der Gereiztheit, der Launen, Beleidigungen, Empörungen, hysterischen Aufgeregtheiten und nervösen Stimmungen“, wie die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” schreibt.

Die Polarisierungsdiagnose ist ein paar nüchterne Fürs und Widers wert. Wahrscheinlich sind einfache Antworten falsch, also sowohl „alles polarisiert“ wie auch „die Polarisierung ist übertrieben“. Zumal ja schon die seltsame Tatsache, dass eine unpolarisierte Gesellschaft über sich denkt, sie wäre polarisiert, nicht ohne Folgen bleibt. Die Vorstellungen, die eine Gesellschaft von sich hat, wirken ja wieder auf die Gesellschaft zurück – sogar wenn sie falsch sind. Es kann ja durchaus sein, war unlängst in der “Süddeutschen” zu lesen, „dass die gefühlte Polarisierung eine Antriebskraft für echte Polarisierung sein kann. Wenn wir alle glauben, dass die Welt in zwei Lager gespalten ist, dann verhalten wir uns politisch auch so – und es wird real. Soll heißen: Bei jedem Sachproblem geht es nicht mehr um die Sache. Jeder will nur noch wissen, auf welcher Seite die eigenen Leute sind und wo die Gegner.“

Titelbild: Miriam Moné

Robert Misik
Robert Misik
Robert Misik ist einer der schärfsten Beobachter einer Politik, die nach links schimpft und nach rechts abrutscht.
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11 Kommentare

  1. Misik will halt auch überleben. Man darf das als Dritter nicht persönlich nehmen. Das “Persönliche” muss er mit sich selbst ausmachen. Das ist schlimm genug.

    • Du möchtest originell daherkommen, aber es reicht doch nur zu einem 08-15-Gag. Bemitleidenswert.

  2. Gespalten, ist sie vielleicht nicht. Aber die Parallel-Gesellschaft wird immer größer. Was die “Politik” – welche Netzwerke, welche Interessen und welches social engineering auch immer dahinter stecken – macht, ist das eine, aber glauben tut das niemand mehr. Ich frage mich was sich die Journalisten der MSM sich dazu denken? Das was Misik schreibt? Ehrlich gesagt für mich sind das Zombies, die (PR-)Geschichten erfinden.
    Das Leben läuft aber natürlich trotzdem weiter. Das Ganze wird ja nur inszeniert, weil “sie” Vorwände suchen um unser Geld zu “ihnen” umzuverteilen.

  3. Fehldiagnose Polarisierung? Ich sehe eher das Problem, das durch Propaganda der Eliten verursacht wird, die ein Ihnen genehmes Narrativ verbreiten. Abweichende Meinungen werden als Mis- oder Desinformation oder als Hate Speech gelabelt und geächtet. Die Wissenschaft wurde ebenfalls gekapert: die meisten veröffentlichten Forschungsergebnisse sind laut Dr. John Ioannidis falsch! Die Medien spielen dabei eine wichtige Rolle und prangern abweichende Meinungen an. Ist die Gesellschaft tatsächlich gespalten oder wird mit unlauteren Mitteln versucht, die Massen zu beeinflussen?

    Ich empfehle dazu den Film von John Pilger: https://youtu.be/8iesFMWieXc?si=e7o2Cl3XkOSpA1p4
    How Government Manipultes Facts – Secrets and Ließ

  4. Also abseits von rechten Schaumschlägern, Verschwörungstheoretiker, Gendereingfahrenen und politisch Überkorrekte, Hypochonder und Therapieversessene usw. usw. gibts ja auch noch das gefühlt sonst sorgenfreie Heer der Mitbürger die sich persönlich betroffen wie bedroht fühlen von so Gefahren die von Klima und Tierschützern ausgehen. Auch sich vegan ernährende Personen werden immer mehr als Gefährder unserer Freiheit und existenziellen Grundlage betrachtet und dementsprechend persönlich und medial – Boulevard, soziale Medien- verunglimpft. Verhältnismäßig kann dazu nur festgestellt werden dass wir im Vergleich zu anderen europäischen Brennpunkten wie z.B. in Skandinavien dies immer mehr von organisierter Bandenkriminalität erschüttert wird auf einer Insel der Seligen leben. Aber ohne Feindbilder oder gefühlte Gefahrenträger gehts wohl nicht und so stehn halt z.B. die Klimakleber ganz ober auf der Liste der Unmutserreger. Auf irgend was muss der gelernte und auch oft etwas gelangweilte Wutbürger ja a Wut haben. Unsere Regierungs und Volksvertreter sind derweil froh dass andere das Fett abbekommen.

  5. Natürlich gibt es eine Spaltung in der Gesellschaft sonst wären zumindest ÖVP und FPÖ schon im Nirvana verschwunden. Mangels Problemlösungskompetenz kommen die nämlich nur über Polarisierung an die Macht. Führt leider auch dazu, dass sich der öffentliche Diskurs egal bei welchem Thema, mittlerweile darauf beschränkt, auf wessen Seite man (mutmaßlich) steht, statt darauf, wie sich ein Problem am besten lösen lässt. Das Ergebnis ist allseits bekannt, Polarisierung, Populismus statt Problemlösung, Rückwärtsgewandtheit statt Fortschritt. Österreich gehörte mal zu den Besten, jetzt zuckeln wir im Sonderzug Richtung Ungarn.

  6. Ja interessant, jene die sofort zu haben waren für den Gedanken, dass die eigene Haltung die einzig richtige ist….genau die wollen jetzt festgestellt haben, dass die Spaltung gar nicht so arg ist.

    Es wurde unheimlich viel Porzellan zerschlagen, Familien, Freund- und Partnerschaften sind kaputt gegangen. Nein, es reicht nicht das nun schönzureden.

      • Was ist denn an der Feststellung, dass unheimlich viel Porzellan zerschlagen wurde… Coronageschwurbel?

        Von mir aus lass ich mich aber gern “Schwurblerin” nennen, für meine Abneigung bzgl. gentechn. Verfahren.

        Bitte schön, dann ist man eben schlauer und liegt richtig wenn man Genrechnik weder hinterfragt noch kritisch beäugt. Wenn dir das stimmig vorkommt… Nur zu!

  7. sorry to disturb you

    aber wenn ich bei einem thema die mögliche bandbreite derart weit fasse, dass sich eh jeder drin findet, gibts natürlich keine polarisierung.

    das ist mE wieder so eine studie die das bereits vorher festgelegte ergebnis beweisen soll.

    Ein Land, zwei Welten
    so lautete der Titel einer Am Schauplatz-Reportage vom 28.10.

    seither hat sich nichts gebessert – eher sogar ist die spaltung grösser geworden.

    https://www.hagerhard.at/blog/2021/11/houston-wir-haben-ein-problem-2/

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