Samstag, Juli 27, 2024

Der Sozialbetrug der Rechten

FPÖ und Co. sehen sich als „Anwalt der kleinen Leute“ – und machen Politik für ihre reichen Gönner.

Rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien stilisieren sich zum „Anwalt der kleinen Leute“. Wenn sie aber dann an die Regierung kommen, dann erledigen sie das Geschäft ihrer reichen Gönner. Die FPÖ hat sich sogar zur „sozialen Heimatpartei“ ernannt, dann aber in den verschiedenen Regierungsbeteiligungen radikale Pensionskürzungen verabschieden wollen (der Reform wurden seinerzeit durch Gewerkschaftskämpfe die Zähne gezogen). Sie hat Ambulanzgebühren eingeführt, sie hat in der zweiten Regierungsbeteiligung den 12-Stunden-Tag abgesegnet, mittels Körperschaftssteuersenkung viele hundert Millionen jährlich an die großen Konzerne verschenkt und im Regierungsprogramm quasi die Einführung von Hartz-IV, also die Abschaffung der Notstandshilfe paktiert – eine Maßnahme, gegen die sie dann selbst halblaut protestierte, die aber schlicht und einfach nur deshalb nicht umgesetzt wurde, weil die Regierung zum Glück rechtzeitig über das Ibiza-Video gestürzt ist.

Rechte Bauernfängerei

Die Rechtspopulisten sind also, so gesehen, die größten „Sozialbetrüger“ im Land. Sie umgarnen eine potenzielle Wählerschaft mit Sozialgerede, ziehen diese dann aber über den Tisch. Simple Bauernfängerei und Prellerei.

Sieht man sich aber die wirtschafts- und sozialpolitischen Forderungen, Programmpunkte und die Regierungspraxis ultrarechter Parteien an (und Programm und Praxis können sich gehörig unterscheiden), dann stellt man neben dem chronischen Sozialbetrug noch etwas anderes fest: Auch in der Sozialpolitik kommt ein Gesellschaftsbild der Rechtsextremisten zum Tragen, das sie langfristig verfolgen. Philip Rathgeb, Assistenzprofessor an der Universität Edinburgh, hat dazu bei Oxford-University-Books gerade eine große Studie herausgebracht: „How the Radical Right has Changed Capitalism and Welfare in Europe and the USA.“

Die Rechtsextremen machen sich für sozialpolitische Maßnahmen stark, die Autochthonen („Inländern“) nützen und Zuwanderern nicht, und sie unterscheiden zwischen jenen, denen Hilfsmaßnahmen „zustehen“ und jenen, denen sie „nicht zustehen“. Die Sozialpolitik zielt also darauf ab, die Bevölkerung in mehrere Gruppen zu spalten. Nahezu überall versucht die Sozialpolitik der Ultrarechten „Globalisierungsverlierer“ zu sammeln, also jene Segmente der arbeitenden Bevölkerung, die von Statusverlust bedroht sind oder von dieser Gefahr schon real einiges spüren. Das heißt, schematisch gesprochen: Jene, deren Status bedroht ist, die aber noch nicht Opfer von den ganz schweren Verwundungen wie Arbeitsmarktinstabilität und Prekarität sind. Arbeitsmarktinsider werden von ihnen angesprochen, Arbeitsmarktoutsider, die noch um einen besseren Status kämpfen – dazu zählen nicht nur Arbeitslose, prekär Beschäftigte und Zuwanderer, sondern auch Frauen, die ihren Arbeitsmarktzugang verbessern wollen – werden eher als Problem angesehen.

Feindbild „Ausländer“ und „Faule“

Dabei benützen sie eine Reihe von Rhetoriken: die hart arbeitenden einfachen Leute (meist Männer im produzierenden Gewerbe oder andere) und Rentner, die lange gearbeitet haben, sind die, denen Unterstützung „zusteht“, alle anderen werden mit einem Federstrich zu jenen ernannt, die sich Begünstigungen „erschleichen“ wollen. Wer neu dazu kommt, hat noch keine Ansprüche „erworben“, dessen Status soll gesenkt werden – ebenso wie die Rechte derer, die nicht „fleißig“ genug sind, also arbeitslos sind oder aus welchen Gründen auch immer langfristige Arbeitsmarktnachteile haben.

Rathgeb hat dazu eine Reihe ganz interessanter Entdeckungen gemacht, etwa, dass sich die Politik von Rechtsextremisten signifikant unterscheidet: In Nordeuropa gibt es einen ausgebauten Wohlfahrtsstaat mit einem hohen Grad an Individualismus und auch an Frauenemanzipation. In Kontinentaleuropa gibt es eher „konservative“ Wohlfahrtssaaten, in denen bevorzugen auch die Rechtsextremisten ein „Familienmodell“. Also etwa Familienleistungen, Steuersenkungen für Familien, und Prämien für Frauen, wenn sie nicht arbeiten, sondern die Kinder betreuen. Noch signifikanter ist das etwa in Ostmittel-Europa, etwa in Polen oder Ungarn, wo es gar keine so ausgebauten Sozialstaaten gibt, da sind Unterstützungen für Familien der Kern dessen, was Rechtspopulisten fordern. In den USA wiederum, wo es viel weniger Sozialleistungen gibt, ist der „Wohlfahrtschauvinismus“ weniger zentral als Forderungen nach ökonomischem Protektionismus, der die „hart arbeitenden weißen Männer“ schützen soll (also etwa Schutzzölle gegen chinesische Waren, um die amerikanische Industrie zu unterstützen).

Mischmasch aus Neoliberalismus und Sozialpopulismus

Fast überall gibt es bei Rechtspopulisten und Rechtsextremisten einen eigentümlichen Mischmasch aus Neoliberalismus und sozialpolitischem Populismus, der sich, so Rathgeb, meist gut aus der Geschichte der rechten Parteien erklärt. Viele sind eigentlich, entgegen ihres Selbstbildes, Uraltparteien. In den siebziger und achtziger Jahren erklärten sie den bürokratischen Wohlfahrts- und „Parteienstaat“ und „korrupte Institutionen“ zu ihrem Hauptfeind. Sie waren oft neoliberale Rebellen gegen die eher linke Nachkriegs-Wirtschaftspolitik. Die älteren Österreicher können sich noch daran erinnern: Die frühere FPÖ wollte das Sozialpartner-Kartell aufbrechen, auch Jörg Haider begann mit solcher Rhetorik. Damit holte er zunächst einmal Stimmen von der ÖVP. Erst später verlegte man sich auf eine Rhetorik des Sozialpatriotismus, mit der man auch konservativere SPÖ-Wähler gewinnen konnte. Nationalistenführer Jean-Marie Le Pen nannte sich seinerzeit der „französische Reagan“. Viele rechtsextreme Parteien begannen als Anti-Steuer-Parteien, wie die dänischen Rechten oder als Anti-Umverteilungsparteien wie die „Lega Nord“ in Italien. Und bei den Trump-Republikanern mischt sich das heute noch auf bizarre Weise: Radikalliberale „Libertäre“ und sozialpopulistischer Autoritarismus gehen fest Hand in Hand. In Deutschland legte die AfD diesen Wandel im Schnellverfahren hin, von der neoliberalen Professorenpartei zur sozialpatriotischen Rechtsextremisten-Partei in gerade einmal zehn Jahren.  

Sozialpolitik als „Kulturkrieg“

Der Großteil der Aktivisten-, Funktionärs- und Spitzenfunktionärs-Schar der Rechtsextremisten gehört zu den Spitzenverdienern und Privilegierten. Aber dort, wo sie besonders erfolgreich sind, haben sie selbstverständlich eine Wählerschaft, die aus der (ehemaligen) industriellen Arbeiterklasse und aus normalen Beschäftigten aus der Dienstleistungsbranche bestehen, also weitgehend aus Wählern aus der Einkommens-Mittelschicht. Aber ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik zielt darauf ab, die Ungleichheiten eher zu vergrößern: Privilegien für die Reichen, Steuersenkungen für die Mittelschicht und Familienleistungen, von denen Gutverdiener am meisten profitieren, sowie Kürzungen für die Unterprivilegierten. Wer meint, wie gelegentlich zu hören ist, dieser Sozialpatriotismus mache eine „eher linke“ Sozialpolitik, ist am falschen Dampfer. Sie sind nicht für mehr ökonomische Gleichheit, sondern für mehr ökonomische Ungleichheit.

Die Rechten verwandeln Sozialpolitik selbst in einen „Kulturkrieg“, zwischen irgendwelchen „Anständigen“ und Leuten, die sich „greifen, was ihnen nicht zusteht“. Denn sie leben von Kulturkriegen jeder Art.

Dass solche Spaltungs-Rhetoriken erfolgreich sind, liegt zweifelsohne auch daran, dass sie an Werte und Gerechtigkeitsnormen andocken können, die immer schon in der arbeitenden Klasse vorhanden waren. Dass einem Absicherung zusteht, weil man „harte Arbeit“ ausführt, weil einem „nichts geschenkt“ wird, weil man in der früh „diszipliniert aufsteht“ um seine Familie zu ernähren, dass „niemand ein Freispiel haben soll“ und dass, wer neu zur Solidargemeinschaft dazu kommt, sich „erst einmal hinten anstellen solle“, das sind Gerechtigkeitsnormen, wie sie auch in eher progressiven Arbeiterklassenmilieus immer vorhanden waren. Sie sind ja auch nicht per se dumm oder falsch, aber bieten Einfallstore für Neid und Konkurrenz innerhalb der arbeitenden Klassen.

Der deutsche Soziologe Linus Westheuser sieht in einem Interview mit der „Zeit“ die Gefahr, dass der Begriff der Arbeit „rechts besetzt“ wird. Es wird immer mehr – auch von Konservativen und sogar von Sozialdemokraten – ein Konflikt zwischen jenen, die „sich anstrengen“ und jenen, die „die Hand aufhalten“ herbeiphantasiert und damit ein Konflikt innerhalb der Unterprivilegierten. Heutige Kontroversen werden „zunehmend von einer moralisierten Konkurrenz zwischen Lohnabhängigen dominiert. Menschen, die das Gefühl haben, ihre Leistung würde nicht honoriert, grenzen sich dann eher nach unten ab, von denen, die es vermeintlich leichter haben als man selbst“, so Westheuser. Eine sozialpolitische Reformpolitik, die die Chancen und Lebensqualität aller hebt, hat es in dieser Debatte schwer, überhaupt noch Gehör zu finden, vor allem dann, wenn sich ein verallgemeinerter Pessimismus ausbreitet: Setzt sich die Überzeugung durch, dass der Kuchen immer kleiner wird und kollektives Handeln zur Verbesserung der Lage der breiten Bevölkerungsschichten aussichtslos, ist es nach Westheuser „letztlich eine rationale Strategie, vor allem das eigene Stückchen zu verteidigen.“

Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Robert Misik

    Robert Misik ist einer der schärfsten Beobachter einer Politik, die nach links schimpft und nach rechts abrutscht.

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