Sonntag, September 8, 2024

Randnotizen: Nationale Bürokratie

Die Haltung zum EU-Renaturierungsgesetz bleibt auf Seiten der ÖVP demagogisch und unsachlich: Der EU wirft man »Überregulierung« vor und dass sie »bürokratisch« sei. Selbst aber betreibt man ausschließlich Bürokratie – nationale Bürokratie eben.

Von Kanzler über Minister bis zu Landeshauptleuten haben nun alle in der ÖVP ihr Nein zum Renaturierungsgesetz bekräftigt. In der Rhetorik zeigt die Volkspartei damit, dass sie immer noch die Gerald-Fleischmann-ÖVP ist, die mit EU-feindlichen Sagern – so wie einst Minister Gernot Blümel mit seinen Mystifikationen wie der »Pommesverordnung« – den Applaus von rechts sucht, Kompromisspolitik ablehnt, dafür aber die eigene, die nationale Bürokratie ordentlich beschäftigt.

Dabei vergisst die ÖVP offensichtlich sogar auf die Stimmung im eigenen Lager; zumindest, wenn man der Auswertung der Online-EU-Wahlentscheidungshilfe »iVote« glaubt, die das Institut OGM veröffentlicht hat. Ein APA-Artikel darüber wurde von der Tageszeitung Der Standard und der Kronen Zeitung am 2. Juni gebracht:

Trotz der Ablehnung des entsprechenden EU-Gesetzes durch die Volkspartei scheint ihre Wählerschaft dem Thema Renaturierung nicht abgeneigt zu sein. Mehr als die Hälfte (56 Prozent) jener, die sich in der Online-EU-Wahlentscheidungshilfe »iVote«. als ÖVP-Anhänger deklarierten, sprachen sich für Renaturierung aus.

Weiter heißt es:

Teilgenommen haben bis Ende Mai etwa 54.000 Personen, davon haben laut OGM-Chef Wolfgang Bachmayer 5.900 angegeben, die ÖVP wählen zu wollen. Insgesamt sprachen sich 31.000 Teilnehmer für eine bestimmte Partei aus. 56 Prozent der ÖVP-Anhänger befürworteten Renaturierung, 29 Prozent waren dagegen.

Die Tageszeitung Die Presse hat am 31. Mai den früheren EU-Kommissär Franz Fischler dazu interviewt. Das ist erfrischend, weil Fischler wohl einer der wenigen in der Volkspartei ist, die noch von Sachpolitik sprechen und auch die soziale Kluft in der Landwirtschaft thematisieren. Wie er sich die Mehrheitsbildung in Europa nach den Wahlen vorstellt, drückt er so aus:

Fischler rechnet zwar damit, dass es bei der Wahl zum EU-Parlament einen Rechtsruck geben werde; »die haben allerdings ein Handicap: Sie sind zerstritten und haben es bisher nicht geschafft, als eine Gruppe aufzutreten. Und: Alle Umfragen, die ich kenne, zeigen auch, dass die derzeitige Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Volkspartei, den Sozialdemokraten und den Liberalen nicht gefährdet ist.«

Man fragt sich ein wenig, ob es Fischler womöglich entgangen ist, dass Ursula Von der Leyen schon von einer Zusammenarbeit mit den neo-faschistischen Fratelli von Giorgia Meloni redet. Und man fragt sich, ob er nach den Aussagen der letzten Wochen die ÖVP als Konsensbereit mit Sozialdemokraten und Liberalen ansieht. Bei den Themen Renaturierung, Aus für den Verbrenner und Tempo 100 ist die ÖVP jedenfalls nicht einmal mit dem eigenen Koalitionspartner, den Grünen – die Fischler nicht einmal erwähnt – zu einem Konsens bereit. Die Umweltpolitik dieser Koalition ist planlos und klimaplanlos. Die ÖVP bemüht die Bürokratie im Kanzleramt, um Ministerin Gewessler für ihr Stimmverhalten in Brüssel die Rute ins Fenster zu stellen. Michael Hammer schreibt am 29. Mai im Kurier:

Nun hat auch der Verfassungsdienst des Bundeskanzleramts, der Österreichs Regierung vor dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) vertritt, die Situation beurteilt. Die Einschätzung liegt dem KURIER vor. Folgt man den Ausführungen der Verfassungsexperten, wird klar: Gewesslers Chancen, der EU-Renaturierung zuzustimmen, ohne dabei einen Rechtsbruch zu begehen, stehen in jeder Hinsicht schlecht.

Das klingt eher wie ein Gegeneinander als nach Zusammenarbeit. Abschließend noch einmal Franz Fischler im Interview in Der Presse:

»Was sich zunehmend rächt und was Österreich in der europäischen Debatte mehr und mehr in eine gewisse Außenseiterposition bringt, ist, dass man einfach Nein sagt. Ohne dieses Nein zu begründen. Das geht nicht. Wenn man Europa, die europäische Zusammenarbeit im Auge hat, muss man miteinander reden und die Dinge ausdiskutieren. Justamentstandpunkte haben keinen Platz, sonst begibt man sich auf die Stufe des Herrn Orbán.«

Ob sich die ÖVP nicht schon längst auf diese Stufe begeben hat?


Titelbild: ROBERT JAEGER / APA / picturedesk.com

Autor

  • Daniel Wisser

    Daniel Wisser ist preisgekrönter Autor von Romanen und Kurzgeschichten. Scharf und genau beschreibt er, wie ein Land das Gleichgewicht verliert.

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