Ministerin Gewessler kopiert die einseitige ÖVP-Verlautbarungsstrategie, die unter Sebastian Kurz noch »das neue Miteinander« genannt wurde. In einer eilig einberufenen Pressekonferenz kündigt sie an, für das EU-Renaturierungsgesetz zu stimmen. Eine späte Emanzipation der Grünen in einer gescheiterten Koalition.
Eine per Eilt-Aviso angekündigte Pressekonferenz von Klimaministerin Gewessler mit einem Statement zum EU-Renaturierungsgesetz wurde für Sonntag 14:00 angekündigt. Die Ministerin überraschte mit der Ansage, am Montag den 17. Juni in Luxemburg im Fall einer Abstimmung für das EU-Renaturierungsgesetz (Nature Restauration Law)zu stimmen.
Artikel, die im Wesentlichen auf einer APA-Meldung basieren, waren bald in fast allen Medien zu finden. Das Nein, das von der ÖVP kategorisch von Bund und Ländern kam, hielt in letzteren nicht einheitlich, nachdem die Landeshauptleute von Wien und Kärnten ihre Zustimmung für das Gesetz signalisierten. Dadurch fühlt Gewessler sich bestärkt. Bettina Pfluger in Der Standard:
Ihre Zustimmung sieht Gewessler rechtlich gesichert. Die Wiener Landesregierung habe beschlossen, das Gesetz zu unterstützen. Auch Rechtsexperten hätten gesagt, dass eine Zustimmung rechtens wäre. »Daher will ich jetzt nicht mehr zögern«, sagte Gewessler.
Alleingang, Affront, Koalitionsbruch
Den sofortigen Aufschrei des Koalitionspartners ÖVP fasst Matthias Fuchs in der Kronen Zeitung so zusammen:
Umgehend Kritik am angekündigten Alleingang Gewesslers übte der Salzburger Landeshauptmann Wilfried Haslauer (ÖVP). Dieser sei »ein Affront gegenüber den Bundesländern und der ländlichen Bevölkerung«. Gewessler stelle damit »ihre persönliche Sicht über die Interessen der Länder«, kritisierte Haslauer. Ihr Vorgehen sei »undemokratisch« und »rechtswidrig«, meinte er. Begrüßt wurde Gewesslers Vorstoß dagegen vom Wiener Klimastadtrat Jürgen Czernohorszky (SPÖ), der betonte, dass der rote Wiener Stadtchef Michael Ludwig mit seiner Kehrtwende den Stein erst ins Rollen gebracht habe. Auch die NEOS unterstützen ein Ja zum Renaturierungsgesetz. Zahlreiche Umweltorganisationen, unter anderem der WWF, Greenpeace und der österreichische Naturschutzbund, zeigten sich ebenfalls erfreut über die Entscheidung der Umweltministerin.
Das stets ÖVP-treue Österreich titelte sofort: Koalitionsbruch. Und etwas später: Platzt heute die Koalition?
Nun, die ÖVP kennt sich seit der Übernahme durch Sebastian Kurz mit Koalitionsbrüchen bestens aus. Die anderen mit Ankündigungen zu überfahren, hieß unter Kurz »das neue Miteinander«. Es ist dennoch kaum zu erwarten, dass der bereits feststehende Wahltermin noch vorgezogen und die Nationalratswahl gleichzeitig mit dem Finale der Fußball-EM am 14. Juli ausgetragen wird.
Retourkutsche
Die ersten Kommentare zu Gewesslers Ankündigung sprechen dann auch klar vom Wahlkampf. Michael Völkers Analyse in Der Standard geht bereits um 15:04 online:
Die Zustimmung von Klimaschutzministerin Leonore Gewessler zum EU-Renaturierungsgesetz ist ein Schlag ins Gesicht der ÖVP.
Völker erwähnt allerdings nicht, dass Karl Nehammer bereits am 10. März 2023 in seiner Rede zur Zukunft der Nation, den Koalitionspartner ohne Einbindung und Vorwarnung mit der Ankündigung eines »Festhaltens am Verbrenner« düpiert hatte. Und gleich ein zweites Mal wurde nach einem sogenannten »Gipfel im Kanzleramt« die Linie verlautbart, der Verbrenner solle bleiben.
Gewessler kopiert also nur die autoritäre ÖVP-Verlautbarungsstrategie, genannt »das neue Miteinander«. Diskursive Prozesse in der Koalition wurden von der ÖVP gar nicht erst bemüht. Das haben die Grünen nicht vergessen. Die Retourkutsche folgt. Doch sich jetzt zu wehren, ist reichlich spät. Bei Tempo 100 ist in fünf Jahren nichts weitergegangen und auch bei der Renaturierung zeigt sich klar, dass der Partner, mit dem die Grünen ihre Kernanliegen umsetzen können, die SPÖ ist. Die ÖVP ist eine Anti-Umweltschutz und Anti-Klimaschutz-Partei – durch und durch.
Völker weiter: Wo ÖVP und Grüne gar nicht zueinanderfinden, sind die Bereiche des Klimaschutzes. Da gehen beide Parteien in die entgegengesetzte Richtung: […] Der Kampf gegen die Klimakatastrophe ist das zentrale Thema der Grünen. Die ÖVP stellt sich gegen den Einzug der Elektromobilität und propagiert den Verbrennungsmotor.
ÖVP orientiert sich Richtung Russland und Öl-Staaten
Völkers Kommentar zeigt, dass sich die ÖVP nicht mehr der EU und den westeuropäischen Partnerstaaten zugehörig fühlt, sondern sich Putins Russland, Saudi Arabien, den Emiraten und Qatar anbiedert – allesamt autoritäre Staaten. Doch die aktuelle ÖVP-Kritik an Gewessler ist völlig überzogen und ebenfalls nur Wahlkampfgetöse.
Sieht man nämlich genauer auf die Sachlage, zeigen sich zwei wichtige Einschränkungen, auf die Matthias Auer in Die Presse zurecht hinweist:
Der ursprüngliche Vorschlag der Kommission ist mittlerweile auf Druck der Agrarfunktionäre stark verwässert. Konkrete Vorgaben für Landwirte wurden weitgehend gestrichen (etwa der Plan, ein Zehntel aller Äcker stillzulegen oder zu Blühstreifen zu machen). Sollte es tatsächlich zu einer Knappheit bei Nahrungsmitteln kommen, wird die Verordnung zudem automatisch ausgebremst.
EU-Bashing wie Herbert Kickl
Weiters sieht das Gesetz gar keine Regulierung vor, sondern überlässt es den einzelnen Staaten, die Umsetzung und sogar die Pläne dazu selbst zu erstellen. Die Kritik von ÖVP-Landeshauptmann Wallner im Mai lautete: »Ich brauche nicht jemanden, der uns von außen erklärt, was wir in Vorarlberg zu renaturieren haben.« Das zeigt, dass der Landeshauptmann entweder das Gesetz gar nicht kennt, denn es schreibt eben nicht vor, was und wie zu renaturieren ist, oder er lügt bewusst und die ÖVP betreibt EU-Bashing wie Herbert Kickl. Matthias Auer präzisiert:
Abgesehen davon schreibt die EU keinem einzigen Land vor, was es genau zu tun hat. Im Gegenteil: Die Mitgliedsländer sind angehalten, selbst einen Renaturierungsplan bis 2030 vorzulegen, in dem sie erklären, wie sie die Ziele erreichen wollen. Daran werden sie letztlich gemessen, nicht an der Erfüllung konkreter Quoten.
Der Standpunkt der ÖVP ist also lupenreiner Populismus. Sie glaubt mit einer ostentativen Anti-EU-Haltung Zustimmung bei den Wahlen zu bekommen. Noch dazu ist gar nicht sicher, dass es am Montag, 17. Juni, überhaupt zur Abstimmung kommt. Raffaela Lindorfer und Bernhard Gaul halten im Kurier fest:
Es ist zur Stunde alles andere als klar, ob das »Nature Restauration Law« überhaupt bei der heutigen Ratssitzung zur Abstimmung kommt, weil nicht klar ist, wer von den anderen 26 Umweltministern in dieser finalen Abstimmung für und wer gegen das Gesetz stimmen wird. Im Rat der 27 Umweltminister benötigt man zur Beschlussfassung zudem keine einfache, sondern eine »qualifizierte Mehrheit«. Das heißt, dass Minister von zumindest 15 EU-Staaten zustimmen müssten, die zumindest 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Sollte absehbar sein, dass diese Mehrheit nicht zustande kommt, dürfte der belgische Ratsvorsitz die Abstimmung wieder von der Tagesordnung streichen.
Es ist also mehr innenpolitisches Getöse als Sachpolitik. Die ÖVP will mehr Nationalstaatlichkeit. Nun, bei der Teuerung liegt Österreich seit zwei Jahren über dem Schnitt in der EU. Hier geht die Nationalstaatlichkeit auf Kosten der Konsumenten und der Kaufkraft. Im Konflikt zwischen Grünen und ÖVP geben beide Seiten nur zu, was wir schon lange wissen: dass diese Koalition in Ökonomie und Ökologie gescheitert ist.
Titelbild: ROBERT JAEGER / APA / picturedesk.com