Die Bundespartei der SPÖ will die Nationalratswahl gewinnen. Die Führung der Wiener SPÖ verfolgt offensichtlich andere Ziele.
„Hut ab vor Doris Bures, der grande dame der SPÖ.“ Das Kompliment kommt von Wolfgang Rosam, direkt aus dem Stall des ÖVP-Spitzenkandidaten.
Grande Dame Bures hat einen Brief zum Wahlprogramm geschrieben: „Die Schwerpunktsetzung auf zahllose Steuererhöhungen bei gleichzeitigen Forderungen nach zahlreichen kostenlosen staatlichen Leistungen könnte im Angesicht der von der ÖVP-Regierung verursachten schwierigen finanzpolitischen Lage der Republik den Verdacht der Unernsthaftigkeit entstehen lassen.“
Den Brief hatte Doris Bures an das Präsidium der SPÖ gerichtet. Dort sitzt sie selbst. Doris Bures hat sich also selbst einen Brief geschrieben. Doch wozu?
Vielleicht wollte sie, wie sie jetzt sagt, nur einen Diskussionsbeitrag leisten. Vielleicht war der Brief nur pro forma an das Präsidium gerichtet. Vielleicht hieß die echte Adresse Kronen Zeitung. Dort kam er jedenfalls an.
Doris Bures bestreitet, dass sie persönlich als Präsidiums-Mitglied ihrem Spitzenkandidaten einen Freundschaftsfeitel in den Rücken gerammt hat. Doch die Unterstellung der „Unernsthaftigkeit“ stammt von ihr. Die Spitze der Wiener SPÖ steht weiter ernsthaft hinter Bures. Warum?
Bauernopfer „Babler“
In diesen Tagen erzählt ein „Medienstratege“ der Wiener SPÖ jedem, der es hören will, eine Geschichte. Jedem, der sie nicht hören will, erzählt er sie übrigens auch. Sie geht so: „Wenn wir heuer im Bund verlieren, gewinnen wir nächstes Jahr in Wien. Babler verliert, damit Ludwig gewinnt.“
Diese Strategie hat eine Vorgeschichte. Im Jahr 2000, als Wolfgang Schüssel dem SPÖ-Wahlsieger den Bundeskanzler wegschnappte, bemerkte die Wiener SPÖ, dass sich eine unerwartete Chance bot. 1996 war die Bürgermeisterpartei auf 39,2 Prozent gefallen. 2001 stellte sie sich als rotes Bollwerk gegen die schwarz-blaue Bundesregierung zur Wahl – und gewann erstmals seit 1987 mit 46,9 Prozent eine Wiener Wahl. 2005 mobilisierte sie noch einmal gegen Schüssel und Grasser. Mit 49,1 Prozent schaffte sie noch einmal das, was sie 1991 verloren hatte: die absolute Macht.
Niemand in der SPÖ wäre 2001 oder 2005 auf die Idee gekommen, bewusst eine Nationalratswahl zu sabotieren, um in Wien gewinnen zu können. Das scheint jetzt anders zu sein. Babler und die Kanzlerschaft könnten die Bauernopfer in einem doppelten Spiel der Ludwig/Bures-Gruppe werden.
Bollwerk „Ludwig“
Nach der kommenden Nationalratswahl, so rechnet man in Wien, gibt es zwei Möglichkeiten. Sollten zur Überraschung vieler FPÖ und ÖVP keine gemeinsame Regierungsmehrheit schaffen, steht mit dem Wiener Finanzstadtrat Peter Hanke der Mann fürs türkise Geschäft bereit. Einige Landesparteichefs setzen dann routiniert betrübte Mienen auf und erkennen, dass es jetzt nicht um die Partei, sondern ums Land geht. Michael Ludwig übernimmt die Regierungsverhandlungen und hat alles in der Hand.
Sollte, wie erwartet, der Rechtsblock die Macht übernehmen, ist die Wiener Wahl auf Schiene. Michael Ludwig erklärt sich zum Bollwerk, verteidigt die Wienerstadt gegen die rechten Horden und gewinnt.
Für beides gibt es eine Voraussetzung: Babler verliert.
Risse in Wien
Es lohnt sich, ernsthaft zu überlegen, ob Ludwig überhaupt noch anders kann. Die Krankenhaus- und Pflegekrise hat er ausgesessen. Die Überlastung der Schulen durch immer mehr Kinder, die kaum deutsch können und starke Schulen brauchen, hat er bagatellisiert. Die Bandenkriminalität als Warnsignal für das kulturelle Wegbrechen großer Gruppen hat er nicht rechtzeitig ernst genommen. Das Scheitern dubioser Milliardengeschäfte a la „Wiener Holding-Arena“ hat er verdrängt.
Wien ist noch längst nicht der politische Trümmerhaufen, zu dem es Trümmermänner wie Karl Mahrer schlechtreden. Aber das soziale, weltoffene Wien hat Risse bekommen. Die Aufgaben, vor denen Wien steht, sind groß, aber lösbar. Für Michael Ludwig scheinen sie zu groß.
Solidarität
Trotzdem sollte auch er wissen: Nach wie vor kann Babler die Wahl gewinnen. Alfred Gusenbauer hatte 2006 gegen Wolfgang Schüssel weit schlechtere Karten – und gewann in einem einzigen TV-Duell. Bablers Chancen kommen erst mit den Duellen, wenn sich Millionen Wählerinnen und Wähler erstmals unverfälscht durch Kauf- und Gratiszeitungen der ÖVP ein Bild machen können.
Voraussetzung dafür ist allerdings das, was bis vor wenigen Jahren eine Stärke der SPÖ war: Solidarität, wie man die gegenseitige Unterstützung in der Partei nennt. Dazu gehört auch, dass man sich ernsthaft überlegt, wie man den Schwung einer gewonnen Nationalratswahl nach Wien mitnimmt.
Geburtshelfer „Ludwig“
Noch nie in ihrem politischen Leben hat Doris Bures etwas auf eigene Faust unternommen. Das Bauernopfer „Babler“ ist wohl Teil einer Strategie. Die Fehler, die die Liesinger Partie damit macht, könnten der SPÖ schwer schaden:
- Wenn Bures und Ludwig Bablers Nationalratswahlkampf sabotieren, kann aus dem Spalt zwischen Ludwig und Doskozil eine Spaltung der SPÖ werden.
- In Wien werden alle, die mit Babler eine Wahl gewinnen wollten, nichts mehr mit Ludwig zu tun haben wollen.
- Gemeinsam mit vielen anderen könnten sie nach dem Selbstfall der SPÖ der Kern einer neuen linken Partei werden.
- Diese neue Partei gewänne mit Sicherheit eine Wahl: die Wahl in Wien im Oktober 2025.
Vielleicht wird Michael Ludwig einmal als Geburtshelfer einer neuen politischen Kraft in die Geschichte eingehen. Im Gegensatz zu Alfred Gusenbauer wird er dafür keine Viktor Adler-Plakette bekommen.
p.s. (10.20 Uhr): Nach dem Leaken des Bures-Briefs geht die Kronen Zeitung noch einen Schritt weiter: Sie will die komplette Führung der FPÖ abschieben lassen!