Sonntag, Dezember 8, 2024

Der Anti-Turmbau zu Babel

Es ist ein Problem, wenn Kinder Deutsch nicht schnell und gut genug erlernen. Nein, es gibt nach wie vor nicht genügend Geld und Personal dafür, dass es leicht gelingt. Das könnte man kritisieren oder Verbesserungen fordern. Alternativ kann man natürlich auch einfach auf die Kinder oder die Bezirke, in denen sie leben, hin dreschen. Das ist einfacher und auch billiger. Man könnte auch gleich sagen: Zu viele Auslända-Gschroppn verderben den Schulanfang.

Mehrsprachigkeit ist etwas Wundervolles. Très éléganteCoolBellisima!

Solange es um die Sprachen geht, die nicht Türkisch, nicht Serbisch, Kroatisch, Farsi oder andere sind, die zu sprechen laut einigen Boulvardmedien und auch einigen Boulvardpolitikern absolut nicht erwünscht ist. Die Sprache wird dann plötzlich von Mehrwert zu Makel. Das geht sehr schnell, tief, noch tiefer, am allertiefsten. Da pfeift einem der Fallwind nur so um die Ohren. Tiaf würde man in Wien, also eigentlich Wean, sagen. Als ich in ebendiesem Wien ankam, hatte ich genau zwei deutsche Worte in meinem Sprachrepertoire, das erste war Wolf und das zweite Benzin (Benzin hatte ich im Flugzeug, das über den eisernen Vorhang flog, gelernt). Damit ließen sich nur Tarzangespräche führen und es war klar, dass ich lernen musste: lernen, mich zu verständigen. Lernen, mich einzugewöhnen. Am Anfang war das schwer.

So wie mir damals geht es jährlich vielen anderen Kindern. Österreichweit. Und ich muss leider festhalten, dass die Diskussion seit damals eine eher unrühmliche Wendung genommen hat. Sei es, dass diese Kinder, so sie der falschen Sprache mächtig sind, massiv abgewertet werden. Sei es, dass Bildung in Österreich immer noch vererbt wird, und wenn diese Kinder das Pech haben, in eine Familie ohne großartige Ressourcen geboren zu werden, in Deutschförderklassen landen, die von so gut wie allen Experten vernichtend beurteilt worden sind.  Ja, es ist ein Problem, wenn Kinder Deutsch nicht schnell und gut genug erlernen. Nein, es gibt nach wie vor nicht genügend Geld und Personal dafür, dass es leicht gelingt. Das könnte man kritisieren oder Verbesserungen fordern. Alternativ kann man natürlich auch einfach auf die Kinder oder die Bezirke, in denen sie leben, hindreschen. Das ist einfacher und auch billiger. Und, alle Jahre wieder, folgt der Boulevard ganz besonderen traditionellen Leerläufen. Einmal im Dezember, wenn behauptet wird, dass der Nikolo – jetzt aber wirklich! – abgeschafft werden soll, Skandal! Und dann nochmal im September, wenn die Schule anfängt und man sich über Schlagzeilen wie jene in Heute freuen darf: „Daheim andere Umgangssprache- Mehr als jeder 2. Wiener Schüler spricht nicht Deutsch.“

Österreichweit ist für 27 % der Schüler Deutsch eine Fremdsprache, in Wien sogar für 51,6 %. “Heute” hat die alarmierende Statistik zum Schulstart.“

Deutsch ist auch für mich eine Fremdsprache. Und die Umgangssprache zu Hause war Russisch. So viel zu der Aussagekraft solcher Aussagen.

Prinzipiell würde ich gerne wissen, was für Eindimensionalität dafür verantwortlich ist, wenn man annimmt, dass es „alarmierend“ sei, wenn ein Kind mehrsprachig aufwächst. Und wie gesagt, bei einem native speaker mit den am Beginn der Kolumne aufgezählten Sprachen wäre es wohl für Heute auch kein Problem. Aber die anderen! Man könnte auch gleich sagen: Zu viele Auslända-Gschroppn verderben den Schulanfang. Etwas kleinlaut heißt es dann gegen Ende des Artikels: „Tatsächlich unzureichende Deutschkenntnisse hatten zuletzt 17,2 % der Schüler mit ausländischer Staatsangehörigkeit.“ Und deswegen die Mehrsprachigkeit verdammen? Den Turmbau zu Babel umkehren in eine Tiefengrabung? If you are in a hole, stop digging. 

Nachtrag: Meine absolute Epiphanie im Weanerischen erlebte ich übrigens, als ich in der Konditorei meines Vertrauens ein traditionelles Gebäck ausprobieren wollte. Und ein Nudlaug bestellte. Statt einem Linzerauge. Die Blicke waren unbezahlbar.

Autor

  • Julya Rabinowich

    Julya Rabinowich ist eine der bedeutendsten österreichischen Autorinnen. Bei uns blickt sie in die Abgründe der Republik.

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