Dienstag, Oktober 1, 2024

Das war keine Protestwahl

Die Kommentare der Nationalratswahlen 2024 außerhalb Österreichs bauen ihre Artikel und Bildstrecken auf Herbert Kickl auf. Die Personalisierung entspricht der Vermarktungslogik der Medien. Ungesagt bleibt aber: Das war keine Protestwahl und keine Wahl der Person Herbert Kickl. Das ist der Triumph des Neo-Faschismus in Österreich.

Zum dritten Mal nach Josef Klaus im Jahr 1970 und Wolfgang Schüssel im Jahr 2006 hat ein ÖVP-Kanzler mit einer Mehrheit im Nationalrat diese Mehrheit bei Wahlen verloren. Trotz der finanzstärksten Medienkorruption in der Geschichte Österreichs, obwohl sie den ganzen ORF und praktisch alle Zeitungen hinter sich hat, verliert die ÖVP über zehn Prozentpunkte und erreicht das schlechteste Wahlergebnis in der Zweiten Republik. Die FPÖ macht es anders: Über sie wird so oder so berichtet. Dämonisierung statt Aufklärung macht die Dämonen noch interessanter. Es ist egal, was über die FPÖ und Herbert Kickl in den Zeitungen steht. Es ist egal, dass er autoritäre Politik machen will. Er ist der große Aufmacher. Auf allen Fotos in ausländischen Medien über die Wahlen in Österreich ist er abgebildet: vor der Wahl und nach der Wahl.

Autoritäre Politik baut nicht nur auf geschichtslose Generationen, sie bringt selbst eine solche hervor. Geschichtslose Generationen sind ein leichtes Opfer von Revisionismus. Und der Revisionismus Österreichs, in dem bald eine revisionistische Partei die meisten Nationalratssitze halten wird, hat schon am Wahlabend begonnen.

Meret Baumann in der Neuen Zürcher Zeitung:

Mit einem erdrutschartigen Zuwachs von 13 Prozent ist die FPÖ laut der Hochrechnung des ORF die klare Siegerin der österreichischen Parlamentswahl. Die Rechtspopulisten kommen auf einen Wähleranteil von 29 Prozent und übertreffen deutlich ihr bisher bestes Resultat, das sie 1999 unter Jörg Haider erreicht hatten [Spitzenkandidat der FPÖ im Jahr 1999 war Thomas Prinzhorn, Anm. DW]. Noch wichtiger ist, dass die Freiheitlichen überhaupt an der Spitze liegen. Auf nationaler Ebene war ihnen das erstmals bei der EU-Wahl vom Juni gelungen.

Für Österreich ist das eine Zäsur, auch weil der FPÖ-Chef Herbert Kickl damit einen legitimen Anspruch auf das Kanzleramt stellen kann. Das Resultat entspricht zwar den Erwartungen: Die Freiheitlichen führten bereits seit Anfang 2023 sämtliche Umfragen an. Dennoch wird es dem Land in den kommenden Wochen intensive Debatten bescheren.

Die FPÖ wollte vor dieser Wahl eine Garantie, dass der Spitzenkandidat der stärksten Partei auch Kanzler wird. Schon in der ersten Diskussion der Clubchefs jammerte FPÖler Hafenecker, die anderen Parteien wollten nur die FPÖ ausbremsen und damit das Votum der Menschen nicht ernst nehmen. Wenn wir also an den Beginn des Rechtsrucks im Jahr 1999 denken: Warum war die FPÖ damals nicht dafür, dass die stärkste Partei – nämlich die SPÖ – mit ihren Spitzenkandidaten Viktor Klima den Kanzler stellt?

Es ist so, wie es seit 1986 ist: Die FPÖ – stets wehleidig und sich als von den anderen ausgegrenzt darstellend – hat selbst kein Problem damit, andere auszubremsen, zu schikanieren und Mehrheiten zu ignorieren.

Christopher F. Schuetze in der New York Times:

Die österreichischen Wählerinnen und Wähler haben der Freiheitlichen Partei Österreichs bei den Parlamentswahlen am Sonntag einen soliden Sieg beschert. Sie wiesen damit die etablierten Parteien zurück und erzielten einen weiteren Sieg für eine fremdenfeindliche Partei in Europa, da die Flut des Rechtspopulismus auf dem Kontinent zunimmt. Doch trotz der fast 30 Prozent, die für die rechtsextreme Freiheitliche Partei und ihren kämpferischen Anführer Herbert Kickl gestimmt haben, könnte sich der Sieg bei den nationalen Parlamentswahlen als rein symbolisch erweisen, da die etablierten Parteien versprochen haben, eine Koalitionsregierung ohne ihn zu bilden.

In Österreich hat Herbert Kickl mit einer stark einwanderungsfeindlichen Plattform Wahlkampf gemacht und Migranten in Österreich als Kriminelle und Sozialhilfeempfänger verunglimpft. Er forderte einen vorübergehenden Aufnahmestopp für neue Asylbewerber und ein Gesetz, das Asylbewerbern die österreichische Staatsbürgerschaft verbieten würde. Die Freiheitliche Partei, die in den 1950er Jahren von ehemaligen SS-Angehörigen gegründet wurde, war bis 2019 an der Regierung beteiligt. Kickl war Innenminister und zuständig für Grenzen und Nachrichtendienste.

Das Wichtigste übersieht Schuetze: Das war keine Wahl Kickls, sondern einer neo-faschistischen Partei. Das war keine Protestwahl. Das war kein »Abstrafen einer Regierung«. Wir befinden uns mehrheitlich in einer Gesellschaft, die Putins Diktaturen (die in Russland und die seiner Protektorate in Aserbaidschan, Weißrussland u.a.) begrüßt und vor allem ihr Erdöl haben will. Wir befinden uns mehrheitlich in einer Gesellschaft, die keine Zusammenhang zwischen Flucht und Migration und der Ausbeutung der Staaten, aus denen Menschen fliehen, sehen will.

Wir befinden uns in einer Gesellschaft, die sich nicht mit Opium, sondern mit acht Stunden durchschnittlichem Smartphonegebrauch pro Tag und Billigkonsum im Onlinehandel selbst einlullt. Die Menschen leben in einer Wirtschaft, die nur aufgrund von Zuwanderung funktioniert, und hetzen gegen Zuwanderer. Die FPÖ-WählerInnen glauben, einer »Partei des kleinen Mannes« anzugehören und befördern stattdessen nur die Macht der Großkonzerne, die Kapitalakkumulation der Superreichen, ungebremsten Freihandel, Umweltzerstörung und die Totalüberwachung der Bevölkerung. Die Verlogenheit dahinter ist, diese Realpolitik als eine Ideologie zu verkaufen, die angeblich »immer schon die Überzeugung« nicht nur der Partei, sondern »des Volkes« war.

Deborah Cole im Guardian:

„Wir brauchen unsere Position nicht zu ändern, denn wir haben immer gesagt, dass wir bereit sind, eine Regierung zu führen, wir sind bereit, diesen Wandel in Österreich Seite an Seite mit den Menschen voranzutreiben“, sagte Kickl in einem Auftritt mit anderen Parteivorsitzenden im ORF-Fernsehen. „Die anderen Parteien sollten sich fragen, wo sie zur Demokratie stehen“, fügte er hinzu und forderte, dass sie ‚über dem Ergebnis schlafen‘ sollten.

Während also das Demonstrationsrecht dann hochgehalten wird, wenn Coronaleugner und Impfgegner auf die Straße gehen, gelten Versammlungen, die sich für bessere Arbeitsbedingungen und Arbeitszeitverkürzung einsetzen, sofort als Aufmärsche »linkslinker Chaoten«. Während man angeblich an der Neutralität festhält, ist Russlandtreue angesagt. Deborah Cole weiter:

Die kremlnahe, islamfeindliche FPÖ erhielt 29,2 % der Stimmen und verwies damit die regierende ÖVP von Bundeskanzler Karl Nehammer mit 26,5 % auf den zweiten Platz, wie die fast vollständigen Ergebnisse zeigen. Die sozialdemokratische Oppositionspartei erzielte mit 21% ihr schlechtestes Ergebnis aller Zeiten, während die liberalen NEOS etwa 9% der Stimmen erhielten. Trotz der verheerenden Überschwemmungen durch den Sturm Boris in diesem Monat, die die Klimakrise in den Vordergrund rückten, landeten die Grünen, Juniorpartner der Regierungskoalition, mit 8,3 % auf einem enttäuschenden fünften Platz.

Und so ungefähr sieht es aus: Es gibt vielleicht zwanzig Prozent überzeugter Sozialdemokraten und zehn Prozent überzeugte liberale Bürgerliche in diesem Land. Sie müssen eingestehen, dass sie mit ideologischer und programmatischer Klarheit nicht zu Mehrheiten kommen. Und genau diese Einsicht birgt die große Gefahr, dass auch sie sich Populismus und Medienkorruption zuwenden. Wenn die SPÖ sich diesem Druck beugt, gibt es drei populistische Parteien in Österreich.


Titelbild: ROBERT JAEGER / APA / picturedesk.com/ ZackZack-Montage

Autor

  • Daniel Wisser

    Daniel Wisser ist preisgekrönter Autor von Romanen und Kurzgeschichten. Scharf und genau beschreibt er, wie ein Land das Gleichgewicht verliert.

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