Donnerstag, März 28, 2024

Die Niederlande und die umstrittene „Herdenimmunität“

Während in Österreich und in vielen anderen EU-Ländern das öffentliche Leben aufgrund harter Anti-Corona-Maßnahmen fast zum Erliegen kommt, setzt die Niederlande auf ein umstrittenes Konzept. Was es damit auf sich hat.

Wien, 17. März 2020 / Österreich macht dicht. Läden schließen, Kindergärten und Schulen sind zu, es herrscht de facto eine weitreichende Ausganssperre zur Eindämmung der Pandemie. Gleiches gilt im Wesentlichen auch für Deutschland und viele andere EU-Länder, insbesondere die stark betroffenen Südstaaten Italien und Spanien. Doch nicht alle Länder bekämpfen die Virus-Pandemie mit gleichen Mitteln.

Die Ausreißer

Zu den „Ausreißern“ gehören nun neben Großbritannien oder Schweden auch die Niederlande. Diese setzen jetzt ganz offiziell auf das Konzept der „Herdenimmunität“, sprich die Immunisierung gegen das Virus durch bewusste massenhafte Ansteckung großer Teile der Bevölkerung. Das verkündete der rechtsliberale Premierminister Mark Rutte am Montag in einer Fernsehansprache. In vielen Medien wird dieses Konzept gleichgesetzt mit Nichtstun oder grob fahrlässiges Agieren. „Briten-Trump“ Boris Johnson kassiert seit einiger Zeit ordentlich mediale Prügel, weil er sein Land nicht umfassend abriegeln will. Das trifft nicht ganz auf die Niederlande zu: denn auch hier wurden einige Läden geschlossen. Doch was ist das Problem mit der „Herdenimmunität“?

Masseninfektion in „kontrolliertem Tempo“

Wie die „Irish Times“ berichten, kündigte Mark Rutte an, eine Infektion mit dem Coronavirus in kontrolliertem Tempo in Kauf zu nehmen, um die Immunität der Bevölkerung gegen das Virus genau dadurch zu steigern.

“Die Realität ist, dass in naher Zukunft ein großer Teil der niederländischen Bevölkerung mit dem Virus infiziert sein wird (…) Wir können die Ausbreitung des Virus verlangsamen und gleichzeitig eine kontrollierte Gruppenimmunität aufbauen“,

so der niederländische Premier, der sonst oft ähnliche Ansichten wie Bundeskanzler Sebastian Kurz hat. Letzterer setzt jedoch ganz auf die Eindämmung und Verlangsamung der Ansteckungen mittels Ausgangssperre.

Rutte betonte zwar, dass Risikogruppen in der Zeit der Infektionswelle besonderen Schutzes bedürfen. Man brauche, so der Premier, wohl Monate oder länger zum Aufbau dieser massenhaften Immunität. Doch das Grundargument ist: angesteckt wird ohnehin die Mehrheit der Bevölkerung, ob Abriegelung oder nicht.

Kann das funktionieren?

An der Kritik an Großbritanniens Premier Boris Johnson, der mittlerweile etwas zurückrudert mit seiner anfänglichen Skepsis bezüglich Shutdown-Maßnahmen, kann man allerdings sehen, wie umstritten die Idee einer „Herdenimmunität“ ist. Es gibt zwar Ausnahmen, auch in der wissenschaftlichen Community: der schwedische Epidemiologe Anders Tengell gilt als Vorreiter des Konzepts, so wie der wissenschaftliche Berater der britischen Regierung, Patrick Vallence. Die Weltgesundheitsorganisation WHO rät allerdings von „Herdenimmunität“ ab. Die wissenschaftliche Beweisgrundlage ist laut WHO nicht gesichert.

“Wir wissen nicht genug über die Logik dieses Virus, es war nicht lange genug in unserer Bevölkerung, um zu wissen, was es in immunologischer Hinsicht tut”,

sagt WHO-Sprecherin Dr. Margaret Harris.

Man wisse hingegen, dass jedes Virus andere Reaktionen im Körper hervorrufe und unterschiedlich funktioniere. Auch Dr. Judith Wasserheit von der Universtät Washington sieht die Idee skeptisch. Laut ihr ist es nur schwer möglich, innerhalb des Konzepts jüngere von älteren Menschen zu separieren, sprich: ohne Restriktionen bei der Bewegungsfreiheit in Form von Ausgangssperren oder strengeren Auflagen könnten ältere Menschen nicht ausreichend geschützt werden.

Dünnes Eis

Die Forscherin sagt auch:

“Außerdem wissen wir nicht, wie häufig eine Immunität nach einer Infektion mit diesem Virus auftritt und wie stark diese Immunität ist und wie lange sie anhält.”

Fakt ist: Die Niederlande begeben sich inmitten der Corona-Pandemie auf dünnes wissenschaftliches Eis. Während die Länder, die auf harte Maßnahmen setzen, sich vor unverhältnismäßigen Grundrechtseinschränkungen hüten müssen, lässt Niederlande seine Bevölkerung bewusst infizieren. Wenn die „Herdenimmunität“ nicht eintreten oder die Strategie der Niederlande ungewünschte Nebeneffekte zeitigen sollte, wird es für Mark Rutte wohl mehr als ungemütlich.

(wb)

Titelbild: APA Picturedesk

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3 Kommentare

  1. […] Statt auf Ausgangssperren oder Social Distancing zu setzen, gab es von Johnson zunächst lasche Maßnahmen. Auf der Website des britischen Gesundheitsministeriums wurde der Bevölkerung nur geraten: „Wenn Sie sich krank fühlen, für sieben Tage in Selbstisolation begeben“. Getestet wurde so gut wie gar nicht. Das britische Zauberwort hieß lange: Herdenimmunität. […]

  2. […] Statt auf Ausgangssperren oder Social Distancing zu setzen, gab es von Johnson zunächst lasche Maßnahmen. Auf der Website des britischen Gesundheitsministeriums wurde der Bevölkerung nur geraten: „Wenn Sie sich krank fühlen, für sieben Tage in Selbstisolation begeben“. Getestet wurde so gut wie gar nicht. Das britische Zauberwort hieß lange: Herdenimmunität. […]

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