Was wissen wir?
Besteht Ansteckungsgefahr mit Covid-19 über Aerosole (Schwebeteilchen in der Luft), oder nicht? Eine neue Studie der Harvard Medical School sagt nein. Während zahlreiche Wissenschaftler zur Anerkennung von Aerosolen als Übertragungsweg aufrufen, bleibt die WHO vorsichtig und fordert dringend weitere Studien.
Wien, 24. Juli 2020 | Seit dem Ausbruch von SARS-CoV-2 herrscht unter Forschern weltweit Uneinigkeit darüber, ob das neue Coronavirus nicht nur durch Tröpfchen, die beim Husten oder Niesen entstehen, sondern auch mittels Aerosolen, kleinsten Schwebeteilchen in der Luft, übertragen werden könne.
Experten erachteten zunächst hauptsächlich die sogenannte Tröpfcheninfektion als Ansteckungsweg für das neue Coronavirus. Bei Husten oder Niesen werden so bis zu einem Millimeter große Tröpfchen in die Umgebung des Verursachers verstreut. Sie sollen allerdings spätestens zwei Meter entfernt zu Boden fallen.
Virologen widersprechen sich
Nach und nach wurde auch der Infektionsweg über Aerosole bekannt. Das Virus, so die Annahme, könne mittels Aerosolen über längere Zeit in der Luft schweben und sich über große Entfernungen verbreiten.
„Inzwischen gehen Forscher davon aus, dass auch über diese Aerosole eine Ansteckungsgefahr mit dem Virus besteht“,
berichtete das deutsche Ärzteblatt Ende Mai
. Der deutsche Star-Virologe Christian Drosten verwies darauf, dass es eine deutliche Komponente von Aerosolinfektionen gäbe – bei den Maßnahmen solle daher insbesondere das Lüften von Räumen berücksichtigt werden, um Übertragungswege möglichst geringzuhalten. Der Schweizer Virologe Hugo Sax schätzt die Lage allerdings anders ein: In einem Interview mit dem Sender SRF Anfang Mai sagte er, aus epidemiologischer Sicht spielten Aerosole keine wesentliche Rolle bei der Übertragung des Virus – sonst würde es viel mehr Fälle geben.
Hugo Sax, Leiter Spitalhygiene am Universitässpital Zürich. Foto: APA Picturedesk
240 Wissenschaftler fordern „Anerkennung der Übertragungsmöglichkeit durch Aerosole“
Viele Wissenschaftler sehen allerdings in der Übertragung durch Aerosole die einzige Erklärung für sogenannte „Superspreading“-Ausbrüche. Anfang Juli wandten sich 240 Wissenschaftler in einem offenen Brief an die Weltgesundheitsorganisation (WHO): Das Risiko einer Übertragung durch Aerosole dürfe nicht verharmlost und müsse ausreichend anerkannt werden. Wissenschaftliche Studien hätten belegt, dass Viruspartikel beim Sprechen oder Atmen ausgestoßen würden und von anderen eingeatmet werden könnten, was „zu Infektionen und Krankheiten“ führen könne. Diese Studien hätten zwar andere Viren untersucht, für Sars-CoV-2 könne allerdings „erwartet werden, dass es sich ähnlich verhält“. Ihre Evidenz hält sich allerdings in Grenzen:
„Die Evidenz für alle Stufen der Mikrotröpfchen-Übertragung von Covid-19 ist zwar zugegebener Maßen unvollständig, aber sie ist ähnlich unvollständig für Formen der Tröpfchen- und Schmierinfektion“,
argumentieren die Wissenschaftler im offenen Brief ihre Forderung.
WHO bleibt zurückhaltend
Die WHO sah zunächst in Aerosolen einen möglichen Übertragungsweg von SARS-CoV-2 nur im Rahmen von „medizinischen Verfahren“. Nach Veröffentlichung des offenen Briefs überarbeitete die Organisation ihre Leitlinie – blieb allerdings weiterhin sehr vorsichtig. Sie räumt in ihren Leitlinien eine „Möglichkeit“ der Übertragung durch Aerosole auch außerhalb medizinischer Settings ein.
Um dies zu belegen, bedürfe es allerdings noch intensiver Forschung, denn die Studienlage sei dazu nicht ausreichend. In den im offenen Brief angeführten Settings von Covid-19-Ausbrüchen bei Chorproben, in Restaurants oder Kultstätten, könne eine Aerosolübertragung nicht ausgeschlossen werden, insbesondere „in Innenräumen mit überfüllten und unzureichend belüfteten Räumen, in denen infizierte Personen längere Zeit mit anderen verbringen“. Es könne allerdings genauso gut sein, dass in den untersuchten Szenarien die Übertragung durch Missachtung von Handhygiene oder Nicht-Tragen von Masken passiert sei.
„Weitere Studien sind dringend erforderlich, um solche Fälle zu untersuchen und ihre Bedeutung für die Übertragung von COVID-19 zu bewerten.“
In ihren „Fragen & Antworten“ zur Übertragung des neuen Coronavirus führt die WHO als Übertragungswege weiterhin die Tröpfchen-Infektion sowie die Schmierinfektion an, aerosolbasierte Übertragung wird aber nur in Zusammenhang mit „medizinischen Verfahren“ genannt.
Beurteilung schwierig
Eine Beurteilung der existierenden Studien zum Thema ist nicht nur für die WHO schwierig, wie die WHO-Chefwissenschaftlerin Soumya Swaminathanin in einem Video anmerkt – Die wissenschaftliche Basis würde sich nahezu täglich verändern, im Schnitt würden rund 500 Veröffentlichungen täglich begutachtet.
Auch für Laien wird es insbesondere dann schwierig, wenn von „Studien“ berichtet wird, die noch nicht entsprechend wissenschaftlicher Qualitätskriterien überprüft wurden. Dies ist zum Beispiel der Fall bei einer kürzlich veröffentlichten „Studie“ aus Deutschland. Das Helmholtz-Institut für Infektionsforschung titelte:
„Übertragung durch Aerosole über mehr als acht Meter nachgewiesen – Wohnsituation der Arbeiter scheint nachrangig“
Oft halten Studien den Überprüfungsverfahren nicht stand, wodurch ihre Ergebnisse oftmals in Zweifel gezogen werden.
Harvard-Forscher widersprechen: Keine Übertragung durch Aerosole
Forscher rund um den Infektiologen Michael Klompas von der Harvard Medical School zweifeln in ihrer neuen Studie die Übertragung von Sars-CoV-2 über Aerosole jetzt an. Dass Sprechen und Husten Aerosole verursacht und dass man Sars-CoV-2 in Luftproben nachweisen konnte, sehen die Wissenschaftler nicht als Beweis dafür, dass Aerosole auch tatsächlich anstecken.
„Trotz der diesbezüglich experimentellen Daten sind die Infektionsraten in der Bevölkerung und die Übertragung innerhalb von Gruppen im Alltag nur schwer mit einer aerosolbasierten Ansteckung über größere Distanzen zu vereinbaren“,
so die Autoren der Studie, die damit die Aussage des Schweizer Virologen Hugo Sax untermauern. Ein weiteres Argument gegen den Übertragungsweg durch Aerosole sei die Reproduktionszahl von Sars-CoV-2. Diese gibt an, wie viele weitere Menschen eine infizierte Person ansteckt. Bevor Schutzmaßnahmen in Kraft traten, lag sie bei etwa 2,5: „Dies entspricht mehr der Grippe als Viren, die sich bekanntermaßen über die Luft verbreiten, wie etwa Masern mit einer Reproduktionszahl von 18“, heißt es in der Studie.
„Entweder ist die für eine Infektion nötige Menge an Sars-CoV-2 viel größer als bei Masern, oder Aerosole sind nicht der dominante Übertragungsweg.”
Geringe Ansteckungsraten
Die Forscher führen in ihrer Studie weitere Gründe, die gegen die Aerosol-These sprechen, an: demnach seien auch die Ansteckungsraten von medizinischem Personal, das unwissentlich Covid-19-Patienten behandelte, mit einem Anteil von unter drei Prozent sehr niedrig, in Fallserien mit engen Kontakten zwischen Erkrankten würde das Virus nur auf fünf Prozent der Kontaktpersonen übergehen.
Das größte Ansteckungsrisiko bestehe für Mitglieder eines gemeinsamen Haushalts: Dort liege die Übertragungsrate bei zehn bis 40 Prozent. Viren müssten sich außerdem keinesfalls über die Luft verbreiten, um sich rasant auszubreiten – Experimente haben gezeigt, dass Viren von einer einzigen kontaminierten Türklinke aus, sich innerhalb von sieben Stunden in einem ganzen Bürogebäude ausbreiten können.
(lb)
Titelbild: APA Picturedesk