Massen protestieren in Russland
In Russlands äußerstem Osten gehen seit Wochen zehntausende Menschen auf die Straßen. Sie protestieren für die Freilassung eines inhaftierten Gouverneurs und gegen Präsident Putins Machtapparat. Das russische Staatsfernsehen tut derweil so, als gäbe es keine Proteste – dennoch können sich Experten eine Ausweitung aufs ganze Land vorstellen.
Wien, 28. Juli 2020 | „Putin, tritt zurück!“, „Putin ist ein Dieb!“: Bereits den dritten Samstag in Folge gehen Zehntausende im äußersten Osten Russlands auf die Straßen und protestieren. Das Demonstrationsverbot aufgrund der Corona-Pandemie hielt die wütenden Massen nicht vom Protestieren ab: In der 600.000 Einwohner-Stadt Chabarowsk im äußersten Osten Russlands sollen laut russischen Oppositionellen am vergangenen Samstag rund 100.000 Menschen auf den Straßen gewesen sein, die Behörden der Stadt sprechen von 6.500 Personen.
Die seit fast drei Wochen anhaltenden Proteste im Osten Russlands blieben friedlich, die Polizei schritt nicht ein. Die Transparente und Plakate, die die Menschenmassen durch die Stadt trugen, zeigten das Gesicht des inhaftierten Gouverneurs Sergej Furgal: „Freiheit für Furgal!“, skandierten die Teilnehmer.
Ausgelöst wurden die Proteste durch die Inhaftierung des von Wladimir Putin entlassenen Gouverneurs. Er war am 9. Juli wegen Mordverdachts festgenommen worden und sitzt derzeit in Moskau in Untersuchungshaft. Die Vorwürfe: Furgal soll zwei Auftragsmorde an Geschäftsleuten organisiert haben, als er selbst noch Unternehmer war. Die Ermittler sprechen von „erdrückenden Beweisen“. Furgal bestreitet die Vorwürfe und mit ihm viele andere Menschen: Sie halten die Vorwürfe für konstruiert und sprechen von einem Racheakt des Kreml an dem beliebten Politiker. „Hände weg von Sergej Furgal“, „Furgal ist unsere Wahl“, skandierten die Demonstranten.
Chabarowsk liegt an der Grenze zu China im Osten Russlands. Für größere Ansicht klicken. Bild: Open Street Maps, Grafik: zackzack.
Furgal hatte Wahl gegen Kreml-Kandidat gewonnen
Nach der Inhaftierung Furgals setzte Präsident Wladimir Putin den Parlamentsabgeordneten Michail Degtjarjow übergangsweise als Gouverneur ein. Furgal und Degtjarow gehören zur im Grunde kremltreuen so genannten “Liberal-Demokratischen Partei Russlands” (LDPR) des Ultranationalisten Wladimir Schirinowski. 2018 hatte Furgal zum Ärger des Machtzentrums in Moskau die Wahl gegen den Kandidaten der Kremlpartei “Einiges Russland” gewonnen.
Am Sonntag sprach Degtjarjow erstmals mit Bürgern der Region nahe der Pazifikküste. Dabei bestärkte er, dass er sich für einen offenen Prozess gegen seinen Parteikollegen einsetze: “Wenn es unwiderlegbare Beweise gibt, sollten die Leute diese auch sehen können”, so der Politiker.
Zwei Welten – Putin „blockiert“ Berichterstattung
Bisher sitzt der Kreml die Proteste aus: Im Staatsfernsehen existieren die Proteste nicht. Kremlsprecher Dmitri Peskow meinte am Freitag, es seien dort “Pseudo-Oppositionelle und Ruhestörer” am Werk. Er kritisierte Schirinowskis Vorwürfe, dass es um einen Racheakt gehe: dieser hatte demnach behauptet, dass Furgal Moskau verärgert habe, weil die üblichen Kisten mit Geld aus der Region ausgeblieben seien. Peskow sprach von “sehr ernsten Anschuldigungen” und verlangte Beweise.
Viele Menschen verabredeten sich über die sozialen Netzwerke. Der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny kommentiert die Proteste via Instagram. Auf Putins Befehl hin würde in den russischen Medien von den Protesten nichts berichtet: Es mache den Anschein, als wäre in Chabarowsk kein einziger Russe auf der Straße.
Ein Bericht spricht von einer ukrainischen Spur, demnach seien die Proteste durch Ausländer getrübt. Nawalny spricht von Parallelwelten: Die eine Welt, in der die Russen sich zu Hause vor Putin-Portraits verneigen, von der in den russischen Medien berichtet wird – und die andere Welt, in der sie den Präsidenten bei Protesten zum Rücktritt auffordern. Nawalny ruft die Bevölkerung auf:
„Wenn sich jeder von uns auch nur ein wenig anstrengt, erfahren 90 Millionen Einwohner unseres Landes, die regelmäßig das Internet nutzen, was in Chabarowsk passiert.“
Kreml sitzt Proteste aus
„Wann wird es ihnen langweilig? Wann werden sie müde? Wann werden sie gehen?“, so Nawalny auf Instagram. Doch der Oppositionspolitiker und Vorsitzender einer Antikorruptionsstiftung, dessen Büro bereits mehrmals von russischen Behörden durchsucht wurde, bleibt zuversichtlich: „In der Region Chabarowsk werden die Menschen nicht müde, und es wird ihnen nicht langweilig.“ Chabarowsk sei „unser Herz und unsere Unterstützung“, so Nawalny.
Kremlsprecher Dmitri Peskow meinte am Freitag hingegen, bei den Protesten seien “Pseudo-Oppositionelle und Ruhestörer” am Werk. Er hatte zuletzt auch Vorwürfe Schirinowskis kritisiert, dass es hier um einen Racheakt gehe.
Kreml von Protesten überrascht?
Die Proteste in der tiefen Provinz hätten den Kreml völlig überrascht, weshalb er noch immer keine Antwort parat habe, meint etwa die Politologin Lilija Schewzowa in ihrer Analyse der Geschehnisse auf Facebook. Sie bezeichnet die Proteste in Chabarowsk als „Test der Steuerungsfähigkeit des Kremls“.
Der Experte Andrej Kolesnikow bei der Denkfabrik Moskauer Carnegie Center meinte, dass die Menschen vor allem wütend seien, weil ihnen ihr “Gouverneur des Volkes” gestohlen worden sei.
Proteste könnten sich „mit der Geschwindigkeit des Coronavirus ausbreiten“
“Wenn es noch einen Vorwand gibt, kann sich diese Ansteckung in Chabarowsk mit der Geschwindigkeit des Coronavirus ausbreiten”, meinte er. Die Menschen seien unbeeindruckt von den Mordvorwürfen gegen Furgal: Die Russen würden die „gesamte Oberschicht für korrupt und verbrecherisch“ halten, so Kolesnikow.
Nicht einmal die angeblichen Morde könnten ihr Bild von Furgal zerstören, da der Ruf der „Elite“ Russlands bei der normalen Bevölkerung so schlecht sei.
Festnahmen in anderen russischen Städten
Auch in anderen Städten gab es Proteste: Bei einer Solidaritätskundgebung in Moskau für die Chabarowsker wurden dabei allerdings mehr als 20 Menschen festgenommen. Festnahmen gab es auch in der russischen Republik Tatarstan. Nach Angaben der Bewegung “Vereinigte Demokraten”, die sich für faire Wahlen einsetzt, wurden am Samstag mehrere Demokratie-Aktivisten festgenommen. Sie sollen an einer Konferenz von Transparency International teilgenommen haben, als schwer bewaffnete Sicherheitskräfte in das Büro der Bewegung in der Hauptstadt Kasan eindrangen, teilte die Bewegung auf Facebook mit. Der Zugriff sei damit begründet worden, dass bei den Betroffenen “die Verwicklung in Terrorismus” untersucht werden solle.
(lb/apa)
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