Samstag, Juli 27, 2024

Lesbos brennt wieder – “Es gibt kein Interesse mehr, den Menschen zu helfen”

“Es gibt kein Interesse mehr, den Menschen zu helfen”

Schon wieder hat es auf Lesbos gebrannt – diesmal im neu errichteten Flüchtlingscamp Mavrovouni. ZackZack hat sich bei Helferinnen und Helfern umgehört. Einer von ihnen ist der deutsche Politiker Erik Marquardt. Seine Berichte von der Insel sind erschütternd, er verliert immer mehr den Glauben an die europäische Migrationspolitik.

Wien/Lesbos, 12. März 2021 | Im Zeltlager Mavrovouni (griechisch: „Der schwarze Hügel“) auf der griechischen Insel Lesbos leben ungefähr 6.900 geflüchtete Menschen. Laut Stellungnahmen der griechischen Regierung sollte das neu errichtete Camp nach der Zerstörung von Moria nur eine „vorübergehende Unterkunft“ sein und im Sommer 2021 durch ein „neues dauerhaftes Pilot-Aufnahmezentrum“ ersetzt werden. Bis zuletzt arbeiteten die griechischen Behörden eng mit der Europäischen Kommission und dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) zusammen, um die Unterkünfte wetterfest zu machen, sanitäre Anlagen auszubauen und die Versorgung der Menschen sicherzustellen. Aber viel mehr als leere Verprechen kommen dabei seit Jahren nicht heraus.

“Es brennt öfters, als berichtet wird”

Ein halbes Jahr ist nun vergangen, seit Moria niedergebrannt ist. Nach dem Brand waren rund 13.000 Geflüchtete obdachlos und tagelang unterversorgt. Nun hat es im neuen Zeltlager Mavrovouni wieder gebrannt. So ein Feuer sei jedoch keine Seltenheit und passiere sehr viel öfter, als darüber berichtet wird.

Die auf Lesbos lebende Journalistin Franziska Grillmeier erzählt gegenüber ZackZack, dass es allein schon das achte Feuer ist, welches sie vor Ort live miterlebt hat. Es sei das sechste Feuer in dem Zeltlager, seitdem es aufgebaut wurde. Es komme oft zu Kurzschlüssen in den provisorisch errichteten Zelten, die schnell Feuer fangen würden. Die Generatoren würden heißlaufen und die Heizstrahler schnell durchbrennen.

Psychisches und physisches Leiden

Dramatisch sei vor allem auch die psychische Belastung. Manche Kinder vor Ort würden etwa schon beim Schauen ins Straßenlicht in Panik verfallen, da es sie an das Feuer und an die Flucht aus Moria erinnere:

„Kindertherapeutinnen und Kindertherapeuten auf der Insel erzählen, dass manche Patientinnen und Patienten oft zu zittern oder zu schreien anfangen und in Panikattacken verfallen, sobald sie ein Straßenlicht sehen.”

Die meisten Geflüchteten, die auf der Insel festsitzen, haben Moria und den Brand noch miterlebt und sind in einer “enormen psychischen Krise”:

“Es gibt hier überhaupt kein kulturelles Leben mehr. Vorher gab es wenigstens noch selbstgebaute Schulen, die Menschen haben sich organisiert, um in die Stadt zu gehen – obwohl sie im Schlamm und im Dreck leben, hat man versucht, das beste aus der Situation zu machen“,

schildert Grillmeier gegenüber ZackZack.

Selbst das sei jedoch nicht mehr möglich. Die dort lebenden Menschen würden zu “handlungsunfähigen Geistern” werden, so Grillmeier.

Eine Migrantin trägt ihre Habseligkeiten nach einem Brand im Lager Moria am 9. September 2020. / Foto: APA

Der Verfall eines Rechtsaates

Wie Grillmeier weiter berichtet, werde das Lager rund um die Uhr von etwa 300 Polizisten kontrolliert. Tore und Zäune würden die Menschen vom restlichen Teil der Insel abschneiden. Ansprechpartner gebe es keine mehr, die Menschen würden einfach sich selbst überlassen werden.

Foto: Grillmeier

Nach den Bränden in Moria im September hatten die griechischen Behörden sechs junge Afghanen wegen des Verdachts der Brandstiftung festgenommen. Zwei von ihnen wurden nun am vergangenen Mittwoch verurteilt, vier weitere Verdächtige befinden sich in Untersuchungshaft. Nach Angaben der NGO “Legal Centre of Lesbos” handelt es sich bei ihnen um unbegleitete Minderjährige. Den beiden verurteilten 17-jährigen Afghanen drohen nun fünf Jahre Gefängnis. Diese legten Berufung ein und wurden vorerst in ein Jugendgefängnis nördlich von Athen gebracht. Die verhafteten Jugendlichen hätten kaum eine Chance, als Geflüchtete den Prozess in Griechenland zu gewinnen:

“Menschen, die keinen Pass haben, haben anscheinend keine Rechte und sind daher weniger Wert. Wir sind uns gar nicht bewusst, wie drastisch die Situation ist und mit was für einer Willkür hier gehandelt wird.”

Das findet auch der deutsche Politiker Erik Marquardt, Mitglied des Europa-Parlaments und Teil der Fraktion Die Grünen, der seinen Schwerpunkt auf Flucht, Migration und Menschenrechte gelegt hat:

“Es ist etwas auffällig, dass da einfach ein sehr großes Lager komplett niederbrennt und nicht einmal der Ansatz übernommen wurde, mit der Feuerwehr hier aktiv zu werden”,

so Marquardt gegenüber ZackZack.

Seiner Meinung nach werde hier die Schuld pauschal auf die Geflüchteten geladen. Das Feuer habe überhaupt keine politischen Konsequenzen mit sich getragen.

“In Deutschland würde man sich fragen, warum keine Brandschutzmaßnahmen eingehalten wurden.”

“Diese humanitäre Krise wurde selbst erzeugt”

Das sich auf einem ehemaligen Schießplatz befindende neu errichtete Flüchtlingslager in Kara Tepe sei durch verseuchte Munition übermäßig mit Blei belastet. Außerdem seien die Zeltlager jeden Herbst überschwemmt. Darüber hinaus wurde eine Firma für mehr als 5 Millionen Euro beauftragt, um das Lager winterfest zu machen. Dies soll aber erst Ende März fertig werden, wenn der Winter vorbei ist:

„Das Lager sollte dort nur zur Zwischenlösung stehen und schnell ersetzt werden. Aber sechs Monate später haben die Bauarbeiten für das neue Lager noch nicht mal begonnen”,

so Marquardt. Er fragt sich, was die EU sich dabei überhaupt erwartet:

“Die Lager werden immer wieder überschwemmt und selbst Monate später nach Errichtung des Lagers gibt es dort immer noch keine Infrastruktur und keinen Zugang zu Strom. Keiner schert sich darum, für Heizungen zu sorgen oder mal feste Unterkünfte aufzustellen. Es ist okay, wenn man sagt, dass man es aus logistischen Gründen nicht schafft, alle unterzubringen – dennoch hängen 800 Wohncontainer im Zoll. Man hat nie den Anspruch gehabt, die Kapazitäten zu erweitern. Diese humanitäre Krise wurde selbst erzeugt”,

so Marquardt deutlich genervt.

Es gehe jedoch nicht nur um Griechenland. Marquardt fragt sich, welche Verantwortung etwa EU-Präsidentin Ursula von der Leyen übernimmt. Es sei absurd, dass die Länder das Problem abwälzen, “indem sie einfach Geld nach Griechenland schicken, dass dann auf der Strecke verloren geht.” So hätte auch Bundeskanzler Sebastian Kurz zeigen wollen, dass er irgendwie hilft, jedoch nicht, indem er Menschen aufnimmt. Laut Marquardt würden die Länder so versuchen, den politischen Druck loszuwerden. Genauso würden aber auch Hilfsangebote, die auf dem Weg zur Insel sind, entweder nicht genutzt oder in Athen im Zoll festhängen:

“Ich selbst habe eine Hilfsorganisation, die Stromaggregate für das Lager spenden könnte. Aber da antworten die Behörden nicht einmal, es gibt überhaupt kein Interesse, den Menschen zu helfen.“

Laut Marquardt wird die Differenz zwischen dem, was gesagt wird und dem was dann letztendlich getan wird immer größer, “Eine Polit-Satire”, fügt er hinzu. Es gebe jeden Tag neue Infos über Menschenrechtsverletzungen. Währenddessen würden sich die Staaten nicht mehr auf die Wahrheit, sondern auf Meinungen stützen.

“Es ist alles so offensichtlich! Seit Jahren wird über die Flüchtlingssituation dokumentiert, doch alle schauen weg. Die Leute haben zu wenig Interesse und das ist hochgradig problematisch. Diese vielen Widersprüche in der Politik sind einfach unangenehm.”

“Wie kann Sebastian Kurz noch ruhig schlafen?”

Auch für Menschenrechtsexpertin und NEOS-Nationalratsabgeordnete Stephanie Krisper sind die katastrophalen Zustände auf Lesbos menschenverachtend und appelliert an die österreichische Regierung:

“Menschen in diesen Lagern auf den griechischen Inseln über den Winter festzuhalten ist barbarisch. Unsere Regierung hat hier das Ersuchen vonseiten EU-Kommission nach Aufnahme von vulnerabelsten Personen immer wieder mit Nein beantwortet- und damit die Hilfsbereitschaft vieler Menschen in aktiv blockiert.”

Türkis-Grün habe damit bewusst in Kauf genommen, “kein einziges Kind aus diesen traumatisierenden und lebensgefährlichen Umständen zu retten”.

“Ein Umdenken ist weiterhin möglich- wir fordern dies weiter! Und wundern uns, wie Sebastian Kurz nachts so gut schläft.”

Im Dezember hat ZackZack einen großen, überparteilichen Aufruf mit bekannten Persönlichkeiten aus allen gesellschaftlichen Bereichen organisiert (hier zu lesen). Wir werden weiterhin auf die verheerende humanitäre Situation auf Lesbos aufmerksam machen und sowohl Bundesregierung als auch EU zum Handeln auffordern.

(jz)

Titelbild: APA Picturedesk

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