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Not a Bot – 26. Juni 2021

26. Juni 2021

Jeden Samstag kommentiert Schriftsteller Daniel Wisser an dieser Stelle das politische Geschehen. Dabei kann es durchaus menscheln – it’s a feature, not a bug!

Wenn man in Österreich eine Kolumne schreibt und versucht am Donnerstagabend einen Text fertig zu haben, damit er am Freitag ins Redaktionssystem kommt, um am Samstag zu erscheinen, hat man es schwer. Ein achtundvierzig Stunden alter Text über die innenpolitische Lage ist etwa so aktuell wie die Twitter-Super-Sprüche Ich frage für einen Freund, Bringt das Popcorn, Weiß man da schon was etc. Bleibt also nur, einen Text für die Ewigkeit zu schreiben, einen Monolith immerwährender Gültigkeit. Oder aber man antizipiert die Zukunft. Ich habe mich für die Zukunft entschieden und bin inzwischen beim Text für den 26. Juni 2021 angelangt, ein Tag, den sich alle schon mal im Kalender markieren können. Hier meine Entwurf für den zukünftigen Text – gemäßigte Science Fiction sozusagen.

Erster Anfang

Es ist ein heißer, sonniger Sommertag im Juni. Nach einem langen Arbeitstag fällt mir die Lokalwahl schwer: Luxor oder Rebhuhn oder in die Innenstadt zum Reinthaler oder gleich in den Prater ins Schweizerhaus? Ich muss wohl würfeln. Ich habe schon die Schuhe an, als ich nur kurz einmal in die Schlagzeilen schaue. Nein, das ist zu schwerfällig. Es dauert zu lange, bis ich zur Sache komme.

Zweiter Anfang

Also anders. Temperatur: 32 Grad. Wolkenlos. Niemand im Gastgarten blickt von seinem Getränk auf, um die Eilmeldung zu sehen:

Regierung Kurz zurückgetreten

Kurz. Schnell. Direkt. Aber klärt dieser Anfang auch die Bedeutung der Schlagzeile für den Erzähler? Nein. Vielleicht schafft es mein Thomas-Mann-Generator:

Dritter Anfang

Die Geschichte vom 26. Juni 2021, die wir hier erzählen wollen – nicht um dieses Tages willen, dessen Sonnenauf- und -untergang sich vom Vortag nur um jene kurzen Verschiebungen unterscheidet, die die Zeitläufte des Jahres eben mit sich bringen, sondern um der Geschichte willen, die uns erzählenswert erscheint, weil sie nicht vergangen, sondern vorzukünftig ist und uns also mit historischem Edelschrott kündigt, was einmal gewesen sein wird.

Vierter Anfang

Vor dem Weggehen – die Schuhe habe ich schon an – kurz noch einmal in die Schlagzeilen geschaut.

Regierung Kurz zurückgetreten

Das Seltsame ist, dass mich in diesem Moment eine kurze Starre befällt. Moment! Ich habe über diesen Tag mit einem Freund gesprochen, und zwar bereits im Herbst 2017. Und wir haben ausgemacht, uns an diesem Tag zu treffen. Also heute!

Tag der Freude und der Scham

Wie sie sich wohl fühlen, die Rußwurms, Wurms, Hörbigers, die Gabaliers und von Goiserns, an diesem Tag, an dem vom Schriftzug Die Neue Volkspartei das Wort Neue gerade entfernt und überspachtelt wird? Ob die Nowaks, Dichands, Fellners, Salomons und Grasls, die Bürgers und Schroms wohl auch so gemütlich beim Spritzer sitzen, während die Töchter, Enkelinnen, Nichten und Cousinen gerade mit Nagellackentferner die türkise Farbe wegmachen? Kommen jetzt die Phrasen, die wir Österreicher nur zu gut kennen: Wie konnten wir denn wissen … Man kann nicht verstehen, wie das damals war … Wir haben immer nur unsere Pflicht getan …

Der 26. Juni 2021 ist ein Tag der Freude und der Scham. Ibiza hat uns darauf vorbereitet. Die Freude und Häme der einen ist die Nachdenklichkeit der anderen. Wieso musste es so weit kommen, fragen sie sich. Und noch wichtiger: Wie verhindern wir, dass es ein zweites Mal passiert?

Geschafft

Ja, die Demokratie hat es geschafft, den massiven Angriff der Liste Kurz und ihrer beiden Kurzzeitregierungen auf Verfassung, Parlament und Justiz abzuwehren. Ja, die Hauptdarsteller dieses Angriffs sind zurückgetreten. Aber ihre Mentoren und vor allem ihre Financiers werden sich nun einfach neue Darsteller suchen und von vorne beginnen.

Vielleicht sind ja Kurz, Fleischmann, Bonelli und Steiner auch zufrieden. Sie haben gezeigt, dass es möglich ist, durch das Sammeln von Spenden und das Anfüttern der Medien an die Macht zu gelangen. Sie haben gezeigt, dass ihr Plan funktioniert. Vielleicht sitzen sie ja zusammen im Gastgarten eines Gastronomen, der jetzt dank ihrer Coronaförderung aus Steuergeldern Millionär ist, und lachen über die ganze Angelegenheit. Nun warten auf sie ohnehin die besseren Jobs, in jenem fantastischen Reich, dessen reiche Bosse sie mit Milliarden noch reicher gemacht haben: der sogenannten Privatwirtschaft.

Feiertagsschlagzeilen

Warum denn immer nur die österreichische Innenpolitik, werde ich oft gefragt. Ja, wir schauen wirklich meist nur auf uns selbst und nicht hinaus in die weite Welt. Es gäbe auch andere Feiertagsschlagzeilen:

Nach Lukaschenkos Abgang: Neuwahlen in Weißrussland

Friedensvertrag zwischen Israel und Palästinensern kurz vor Abschluss

Arbeitslosigkeit erreicht 0 %

Wiener Wiesn im Prater findet heuer nur digital statt

Glücksspiel in Österreich wird verstaatlicht

35-Stunden-Woche kommt

Glücksspiel in den USA wird verstaatlicht

Es fiele mir so viel ein. Ein neues fünfzig-strophiges »Imagine« würde für die Aufzählung nicht reichen.

Vor langer Zeit, am 12. Mai 2021

Vor langer Zeit, nämlich am 12. Mai 2021, sagte Sebastian Kurz, manche hielten es für ein Naturgesetz, dass nur die SPÖ in Österreich den Bundeskanzler stellen kann. Trumps lügen wurden von den Medien gezählt. Haben sie auch Kurz’ Lügen gezählt? Die impliziten Lügen mit eingerechnet? Von 1945 bis 1970 stellte die Volkspartei den Kanzler und schien das für ein Naturgesetz zu halten. Im Jahr 2000 wurde ein ÖVP-Politiker Kanzler, obwohl die Partei bei der Nationalratswahl nur Platz drei erreicht hatte. Wie konnte das sein? Aufgrund einer parlamentarischen Mehrheit und nicht aufgrund einer Volkswahl. Kurz wurde nicht vom Volk zum Kanzler gewählt, er wurde als Listenerster seiner Liste in den Nationalrat gewählt.

Und weiter geht es mit den Lügen: Die Opposition erhebe Vorwürfe gegen ihn. Nein, die Staatsanwalt führt Ermittlungen durch. Die ÖVP-Landeshauptleute stellen sich hinter ihn. Unnötig. Die unabhängige Justiz soll ihrer Arbeit nachgehen. Schließlich waren die Justizminister seit 2008 bis 2020 von der ÖVP und seit 2020 von den Grünen, dem Koalitionspartner der ÖVP die Grünen die Ministerin. Sie werden wohl für die Unabhängigkeit der Justiz gesorgt haben. Oder nicht?

Was Kurz mit dieser Entgleisung sagen wollte: Ich hasse die Sozialdemokratie. Ich hasse alle Sozialdemokraten. Man kann mein Freund oder mein Feind sein. Ich hasse meine Feinde, denn ich bin ein gläubiger Christ und bei Matthäus heißt es: Hasse deine Feinde!

Hier Überschrift für Schluss einfügen!!!

Aber was kümmern mich die Lügen des zurückgetretenen Kanzlers an diesem sonnigen 26. Juni 2021! Heute wird gefeiert! Ich bestelle noch einen Spritzer. Und mache mir Gedanken über die Zukunft. Eine Zukunft, in der sich die Vergangenheit nicht wiederholen darf. Nein, es muss ein anderer Schluss her. Der 26. Juni 2021 muss zum Nationalfeiertag erklärt werden. Nein, auch nicht gut.

Titelbild: APA Picturedesk

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