Die Grünen haben einem rücktrittsreifen Kanzler und seinem System ein Dreivierteljahr geschenkt, kommentiert Peter Pilz.
Wien, 13. Juni 2021 | Heute ist Bundeskongress der Grünen. Sie werden mit zusammengebissenen Zähnen feiern und sich gegenseitig versichern, dass sie am richtigen Weg sind. Am Ende des Tunnels, wird ihnen die Führung sagen, durch den man jetzt durchmüsse, wartet ein Licht. Ich glaube das nicht.
Unsere Wege haben sich vor vier Jahren getrennt, aus politischen Gründen. Es gab damals zwei Meinungen. Die einen wollten in eine Regierung, um jeden Preis. Die anderen wollten die Politik ändern, um Menschen zu erreichen, ohne die es keine Mehrheit gibt: Menschen mit Angst vor Armut, Arbeitslosigkeit, hohen Mieten und Ausländern. Ich gehörte damals zu diesen anderen.
Ich glaubte daran, dass die Grünen mit dieser Öffnung zu einer bestimmenden Kraft und zum Gegenpol der FPÖ hätten werden können. Eva Glawischnig, Werner Kogler und die beiden heimlichen Parteichefs, Stefan Wallner und Dieter Brosz, glaubten das nicht. Öffentlich erklärten sie, dass unser Kurs die Aufgabe grüner Prinzipien bedeute. Vier Jahre später haben Kogler, Wallner und Maurer alles aufgegeben, was uns Grünen wichtig war: die Unis und die Schulen; die Bekämpfung der Kinderarmut; das Bleiberecht für gut integrierte und ebenso gut ausgebildete Jugendliche; das Verbot des Schredderns von Küken; die Korruptionsbekämpfung ohne wenn und aber; und dann noch die Kinder von Moria.
„Nur so verhindern wir eine Regierungsbeteiligung der FPÖ!“ Das war die Rechtfertigung für den Deal mit Kurz, Blümel, Nehammer und Sobotka. Das Projekt von Sebastian Kurz ist inzwischen gut erkennbar: mit freiheitlicher Politik die Mehrheit halten, die Kurz in zwei Wahlkämpfen „gegen das System“ errungen hat. Immer öfter ist die grüne Handschrift eine Unterschrift unter freiheitliche Politik. Das ist der „Erfolg“ der Grünen: Ein türkises Plagiat der FPÖ lässt sich von den Grünen helfen, an der Macht zu bleiben.
Es wäre auch anders gegangen. Kogler hat im Winter 2019 gewusst, dass die ÖVP die Grünen mehr braucht als die Grünen die ÖVP. Statt den Preis hoch zu halten, hat er seine Partei in der finalen „Chefrunde“ verramscht. Der ÖVP erlaubt das Regierungsübereinkommen sogar punktuelle Koalitionen mit der FPÖ. Nur die Grünen sind gefesselt und geknebelt.
In ihrem selbstgemachten Unglück hatten Kogler, Wallner und Maurer Glück. Im Frühjahr 2021, als Kurz bereits bis zur Brust im eigenen Sumpf steckte, erkannte auch die grüne Spitze, dass der Kanzler nicht über Wasser gehen kann. Plötzlich bot sich eine Chance: Der Ibiza-U-Ausschuss sollte verlängert werden. Wenn die Grünen mitstimmten und damit die Verlängerung ermöglichten, konnte Kurz die Koalition nicht platzen lassen. Er konnte nur drohen. Aber die Drohung reichte. Sigi Maurer legte wieder den Beißkorb an.
Garanten für Rechtsstaatlichkeit?
Ein letztes Argument spricht noch für die Grünen: „Als Justizministerin steht Alma Zadic hinter der WKStA. Sie garantiert, dass alles aufgeklärt und angeklagt wird. Alma Zadic ist die grüne Garantin des Rechtsstaats.“ Auch das ist falsch. Alma Zadic und ich haben gemeinsam mehr als ein Jahr das System “Pilnacek“ bekämpft. Sie kennt sein Netzwerk und seine Strohmänner. Statt die WKStA zu schützen, hat sie ihn zum Sektionsleiter bestellt und die Sabotage der WKStA weiter zugelassen. Eine führende WKStA-Ermittlerin hat bereits aufgegeben. Sie hat zu lange vergeblich auf den Schutz durch die Ministerin gewartet.
Trotzdem macht es einen Unterschied, ob Grüne oder die ÖVP das Justizministerium kontrollieren. Werner Kogler hat zumindest die 3 Tages-Frist, mit der die Pilnacek-Oberstaatsanwaltschaft Wien über geplante Hausdurchsuchungen vorgewarnt werden musste, abgeschafft. Zadic weigert sich, die ÖVP gegen die WKStA zu unterstützen. Doch die WKStA-Ermittler mussten eineinhalb Jahre auf sich allein gestellt die ÖVP-Angriffe überleben. Am 10. Juni 2021 hatte Alma Zadic in der ZiB 2 die Möglichkeit, Kurz und der ÖVP klare Antworten zu geben. Sie blieb sie alle schuldig.
Aber was machen die Grünen im Falle einer Anklage gegen Kanzler Kurz? „Die Frage stellt sich derzeit nicht”, versucht sich Kogler durchzuschwindeln. Er weiß, sie stellt sich demnächst. Jeden Tag wird es wahrscheinlicher, dass Kurz wegen falscher Zeugenaussage im U-Ausschuss angeklagt wird. Fast überall in der EU wäre das ein zwingender Rücktrittsgrund. Aber Kogler will Zeit gewinnen: „Also ein verurteilter Bundeskanzler ist eigentlich tatsächlich nicht vorstellbar.“ Eine Verurteilung des Kanzlers ist frühestens 2022 zu erwarten. Der U-Ausschuss muss im Herbst neu eingesetzt werden und kann auch nicht vor März 2022 mit seiner Arbeit beginnen. Die Grünen haben einem rücktrittsreifen Kanzler und seinem System ein Dreivierteljahr geschenkt.
Im Beiwagen
Kogler und seine Partei sind für zwei Versprechen gewählt worden: für saubere Umwelt und für saubere Politik. Das zweite Versprechen haben sie gebrochen. Das erste versuchen sie nach wie vor umzusetzen. Ihre Umweltministerin hat Erfolge vorzuweisen. Oft unbeachtet setzt sie wichtige Schritte in der Klimapolitik. Das Schlüsselprojekt, die ökosoziale Steuerreform, liegt noch auf der langen Bank. Aber niemand kann den Grünen vorwerfen, dass sie hier nicht hartnäckig sind.
Warum versuchen Kogler und seine Partei, nur ein Versprechen zu halten? Der Grund führt wieder zurück in die Koalitionsverhandlungen. Hier hat sich die grüne Spitze entschieden, der ÖVP von der Schule bis zum ORF fast alles zu überlassen. Dafür erhoffte sie sich eine Wende in der Klimapolitik.
Aus der Ferne ist schwer zu verstehen, warum sich die Grünen nicht mehr trauen. Von der Abschiebung der gut integrierten Jugendlichen bis zur Verweigerung der Hilfe für die Kinder von Moria haben Kurz, Nehammer und Sobotka die Grünen bewusst gedemütigt und vorgeführt. Die Grünen haben geschwiegen, wie der Kanzler persönlich den Gesundheitsminister fertigmachte. Jetzt halten sie einem Partner, der von Beschuldigten geführt wird, die letzte Stange.
Aber vielleicht geht das nicht anders. Wenn man im Beiwagen sitzt, kann man weder lenken noch bremsen. Man sorgt mit dem Beiwagen nur dafür, dass das Motorrad, auf dem der Kanzler sitzt, auch im Stillstand nicht umfällt.
Titelbild: APA Picturedesk