Samstag, Juli 27, 2024

Entscheidung über Leben und Tod: Salzburg stellt Triage-Team zusammen

Entscheidung über Leben und Tod:

Die Lage auf den österreichischen Covid-Intensivstationen wird immer dramatischer. Die Salzburger Landeskliniken haben jetzt ein Triage-Team zusammengestellt, welches im schlimmsten Fall über Leben und Tod entscheiden muss. Experten fordern einen Lockdown für alle.

Wien, 17. November 2021 | Immer mehr Experten sprechen sich aufgrund der steigenden Zahl an Covid-Intensivpatienten für einen Lockdown für alle in Österreich aus. “Es geht sich sonst nicht mehr aus”, sagte Rainer Thell, leitender Oberarzt der Notfallaufnahme in der Klinik Donaustadt, ehemals SMZ Ost, im Gespräch mit der APA. “Es kann nicht sein, dass in Salzburg Menschen sterben, keine mutigen Entscheidungen getroffen werden, die auf der Hand liegen”, kritisiert er.

„Pseudo-Lockdowns“ ziehen das Problem nur in die Länge

“Jetzt kann man Salzburg noch entlasten und Patienten nach Wien und Niederösterreich ausfliegen.” Denn dort gebe es beispielsweise noch Betten für Covid-19-Patienten. Er könne es nicht akzeptieren, dass das Sterben zugelassen wird, sagte Thell. “Wenn wir jetzt nicht solidarisch sind, wann dann?”, fragte der Anästhesist und Intensivmediziner. “Wer jedoch glaubt, dass nur Salzburg und Oberösterreich stark betroffen sind, der irrt”, sagte er. “Die Welle wird sich weiter fortsetzen. Das Weihnachtsgeschäft und die Wintersaison sind in höchster Gefahr, wenn wir jetzt nicht auf die Vollbremse steigen”, sagte Thell.

Denn “sämtliche regionale, partielle oder Pseudo-Lockdowns werden das Problem nur in die Länge ziehen, aber nicht nach unten drücken. Es zieht sich für uns alle in den Köpfen wie ein Germteig”, sagte der Oberarzt. “Uns läuft schlicht und ergreifend die Zeit davon. Wir können auch nicht mehr bis Ende November warten. Mit einem befristeten Lockdown vermasseln wir es nicht, sondern investieren in eine ganz wichtige Sache: in den Advent und in Weihnachten”, sagte der Mediziner. “Wir alle leben in Wahrheit niemals in totaler Freiheit, sondern nur in Freiheitsgraden. Und jetzt müssen wir uns ganz einfach im Sinne derer, die in den Spitälern behandelt werden müssen, zurücknehmen, das ist alles.”

Sechsköpfiges Triage-Team

In Salzburg ist die Lage besonders dramatisch, die Landeskliniken haben dort bereits ein sechsköpfiges Triagierungsteam nominiert, das aus fünf Medizinern verschiedener Fachbereiche und einer Juristin besteht. Sie müssen dann entscheiden, welche Patienten noch intensivmedizinisch behandelt werden können und welche nicht. Thell betonte jedoch, dass das Personal in den Notfallaufnahmen und Intensivstationen auf sich allein gestellt sei. “Um 2.00 Uhr in der Früh gibt es keine Kommission, die Entscheidungen trifft. Diese müssen dann impulsiv getroffen werden”, sagte der Intensivmediziner.

Triage an Intensivstationen. Medizinische Kriterien: Dringlichkeit der Behandlung, Überlebenschancen, mögliche Langzeitschäden. Grafik: Infografik-Hamburg, Quelle: APA

Auch in Wien würden laufend weitere Covid-Stationen aufgemacht und andere Stationen geschlossen werden. Ständig müssten auch weitere Intensivbetten für Patienten zur Verfügung gestellt werden. Planbare Operationen werden verschoben oder sind gar eingestellt, damit die Covid-Patienten versorgt werden können. Auf den Nicht-Covid-Stationen müssen die Patienten immer mehr zusammenrücken. “Es verschiebt sich alles ununterbrochen nach hinten, das hat für alle enorme Auswirkungen”, erläuterte Thell. Notfälle – etwa nach einem Verkehrsunfall – werden selbstverständlich weiter versorgt, betonte der Mediziner.

Immer mehr Gesundheitspersonal denkt über Kündigung nach

Die vierte Corona-Welle hat auch die oberösterreichischen Spitäler fest im Griff. Triagen, die zwischen Leben und Tod entscheiden können, gehören auch hier schon fest zum Arbeitsalltag der Krankenhäuser. Erst vor kurzem sei eine betagte Frau eingeliefert worden, die nur noch 50 Prozent Sauerstoffsättigung aufwies. Normalerweise wäre dies ein Intensivfall, so eine Krankschwester aus einem oberösterreichischen Spital gegenüber der APA, aber es sei kein Platz frei gewesen. Die Dame war zäh und überlebte. “Da war auch Glück dabei”, so die Krankenschwester.

Die Entwicklung macht dem Gesundheitspersonal der Spitäler Angst, denn sogar Ältere würden über Kündigung nachdenken, sie würden sogar auf die Abfertigung verzichten. Junge Ärzte suchen aktiv nach Ordinationen. Die Stellenausschreibungen der Spitalsbetreiber werden immer mehr. Der derzeit größte Wunsch einer Krankenschwester in dieser Welle: “Ich will keinen Bonus, der außerdem noch nicht ausbezahlt wurde. Ich will mein planbares Leben zurück.” Einmal aufwachen und nicht am Handy die nächste Anfrage nach Einspringen sehen müssen.

Dringender Aufruf zur Impfung

Derzeit gilt in Österreich der Lockdown für Menschen, die weder geimpft noch genesen sind. Dieser “trägt nur zur Spaltung der Gesellschaft bei”, kritisierte Thell. Außerdem lässt sich “nicht trennen, wer geimpft und ungeimpft ist. Wir alle, die Bevölkerung, brauchen dringend Vertrauen und Orientierung”. Ungeimpfte sollen nicht ausgesperrt werden, forderte Thell. Viele hätten Sorgen und Ängste, seien aber keine dezidierten Impfgegner. Ihnen müsse die Tür offen gehalten und sie eingeladen werden, “über ihren Schatten zu springen und ihre Position zu überdenken. Sie verlieren nicht ihr Gesicht, sondern zeigen wahre Größe, wenn sie sich zu einer Impfung entscheiden”, konstatierte der Arzt.

(apa/jz)

Titelbild: APA Picturedesk

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