Der Lobautunnel wurde zwar abgesagt, die Wiener „Stadtstraße“ soll dennoch kommen. Kolportierter Baustart ist bereits am Montag, die Stadt Wien will nun offenbar das Protestcamp räumen. Lokalaugenschein bei den Demonstrierenden, die nicht weichen wollen.
Florian Bayer
Wien, 11. Dezember 2021 | Im Takt der U2 trudeln die Leute ein, langsam, aber doch. Wer bei der Station Hausfeldstraße aus der U-Bahn steigt und zielstrebig bei der Straßenbahnkehre vorbeispaziert, der will ins direkt angrenzende Protestcamp „Wüste“. Jedenfalls am Donnerstagnachmittag.
Wenige Stunden zuvor, um 11 Uhr, fuhr ein Polizeiwagen vor. Vier Polizisten erklärten die dortige „Versammlung“ für beendet. Die wenigen anwesenden Klimaaktivisten, die mit vielen weiteren Mitstreitern seit drei Monaten gegen große Straßenbauprojekte demonstrieren, wurden aufgefordert, das Camp zu räumen. Schließlich sollen schon kommenden Montag die Bagger auffahren, die schon jetzt neben aufgestellten Baustellencontainern und Holzhütten herumstehen.
Denn hier, auf einem riesigen Feld gleich bei der U-Bahn, will die Stadt Wien neben großen neuen Wohnanlagen eine Verbindungsstraße („Stadtstraße“) bauen, die nun eben nichts mehr verbindet, seit Verkehrsministerin Leonore Gewessler dem Lückenschluss der Wiener Außenring-Schnellstraße S1 („Lobauautobahn“) eine Absage erteilt hat. Die Fläche ist riesig, auf zwei Seiten von der U2-Trasse umgrenzt, auf zwei von kleineren Straßen. Doch das lässt sich im dichten Schneetreiben nur erahnen.
Ungeachtet von Gewesslers Entscheidung zum Erreichen der selbstgesteckten österreichischen Klimaziele, will die Stadt Wien die Stadtstraße weiter ohne Abänderungen bauen. Wiewohl dies von Anfang an unter dem Gesichtspunkt der gebauten Lobauautobahn konzipiert und von der Stadt meist auch so kommuniziert wurde.
In einer Pressekonferenz argumentierte Verkehrs-Stadträtin Ulli Sima mit Wohnungen für 60.000 Menschen, die ohne hochrangige Straße „nicht gebaut werden können“. Das ist lediglich bei einem Viertel der geplanten Wohnungen unumstritten. Damit sie gebaut werden dürfen, verlangt die Umweltverträglichkeitsprüfung den Bau der Straße.
„Öffis beste Lösung“
„Am meisten stören mich die Lügen der Stadt. Die mit dem Wohnraum für 60.000 Menschen. Aber auch etwa die, dass die Stadtstraße eine Entlastung der Verkehrssituation bringt“, sagt Christa Staudinger (78), die am Nachmittag ins Camp kommt. Die frühere Lehrerin lebt seit 50 Jahren im Bezirk und sitzt für die Grünen in der Bezirksvertretung Donaustadt. „Man wusste schon vor vielen Jahren, dass Öffis die beste Lösung des Verkehrsproblems sind. Da sind sich alle Verkehrsexperten einig“, sagt sie und verweist auf eine Studie der TU Wien, die 2015 zu diesem Ergebnis kam. Befürworter der Straße führen dagegen eine von der damaligen Grünen-Verkehrsstadträtin Maria Vassilakou beauftragte internationale Studie an, die den vorerst abgesagten Tunnel und die Stadtstraße als „beste Lösung“ ausmachte.
Dass die Straßenbahnen schon weitestgehend ausgebaut worden seien, wie die Stadt vermittelt, sei falsch, sagt Bezirkspolitikerin Staudinger: „Da gibt es noch viel Luft nach oben.“ Am meisten aber stört sie das „Betonieren“ der SPÖ: „Kein Plan ist in Stein gemeißelt. Es zeichnet Politiker aus, wenn sie sagen können: Es haben sich die Zeiten geändert. Der Klimaschutz spielt heute eine andere Rolle als noch vor 20 Jahren“, sagt Staudinger. Das passiere aber nicht.
2: Christa Staudinger, Bezirksrätin der Grünen in Wien-Donaustadt.
Die Stadtstraße sei teuer – „1.500 Euro pro Zentimeter!“ – und mit ihrem Fokus auf den Individualverkehr eine Fehlplanung, sagt Staudinger. Dass sie selbst Bezirkspolitikerin ist, lässt sie sich kaum anmerken, wiewohl sie auf Nachfrage auf das Öffikonzept ihrer Partei verweist. Dieses sieht u.a. einen vollständigen S-Bahn-Ring, neue Straßenbahnen und Express-Buslinien sowie Radschnellwege vor.
Camp längst winterfest
Ähnlich sehen es auch andere Demonstranten. Rund 30 Menschen sind trotz des Wintereinbruchs am frühen Nachmittag schon hier. Ungefähr so viele können auch in den drei Stockwerken der hölzernen, teils verglasten Pyramide schlafen. Schon vor Wochen winterfest gedämmt und mit einem im Freien stehenden Holzofen beheizt, ist es darin erstaunlich wohnlich.
Am Nachmittag werden noch Umbauten und vor allem Platz für viele Schlafsäcke im Gebäude gemacht. Im kleinen Zimmer ganz oben hält dieser Tage permanent jemand Wache, der alle vier Himmelsrichtungen überblickt und bei Polizei im Verzug die Glocke läutet. Derweil alles ruhig.
Nach und nach trudeln immer mehr Leute ein. Für 19 Uhr haben die Aktivisten – u.a. von Fridays For Future und Extinction Rebellion – eine spontane Demo einberufen. Mehr als 100 Menschen sind gekommen, nicht alle von ihnen werden hier die Nacht verbringen. Viele schon, das Camp ist winterfest. Neben Reden und Sprechchören gibt’s auch Musik: „Gekommen, um zu bleiben“ (Wir sind Helden) ist der Song zur Stunde.
2: Eine dreistöckige Pyramide mit „Ausguck“, eine gut eingeheizte Hütte, ein paar kleinere Holzverschläge, eingeschneite Zelte und hölzerne „Schlafkabinen“ – das ist das Camp „Wüste“.
„Keine Spur von Dialog“
Am Donnerstagnachmittag sehen die meisten einer drohenden polizeilichen Räumung relativ gelassen entgegen. Viele hatten damit früher oder später gerechnet. Dennoch ist der Unmut über die Stadt Wien groß, die erst gestern noch von „weiteren Gesprächen“ und „Dialog“ gesprochen hat. Auch sagte Bürgermeister Ludwig erst vor zwei Wochen, dass es keine Räumung des Camps geben werde. Eine solche steht nun wohl bevor.
Tatsächlich habe es erst zwei Kennenlerntermine auf Beamtenebene gegeben, sagt ein Aktivist, der dabei war. „Wobei die Stadt von vornherein klar gemacht hat, dass sie zu keinerlei Zugeständnissen bereit ist.“ Der Bürgermeister selbst verweigere jeden Austausch, etwa sehr explizit im “Falter“.
Für Dialog bleibt wohl auch keine Zeit mehr, denn laut „Krone“ sollen am Montag die Bauarbeiten beginnen. „Die Stadt will einfach Tatsachen schaffen. Wenn die Stadtstraße erstmal gebaut ist, werden sie eine neue Diskussion über die Lobauautobahn starten“, sagt eine Aktivistin. Nachsatz: „Bis dahin könnte die Verkehrsministerin nicht mehr grün sein und anders entscheiden.“
Gefährdung des öffentlichen Wohls?
Von der LPD Wien heißt es auf ZackZack-Anfrage, dass die Stadt als Grundstückseigentümerin die Versammlung nicht mehr dulde. Die Stadt sehe im Protestcamp „eine klare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder des öffentlichen Wohls“, heißt es von der Polizei.
„Die Absage des Lobautunnels war ein großer Erfolg, den wir schon in der Tasche haben. Ich bin überzeugt, dass die Stadtstraße als nächstes fallen wird“, sagt Lena Schilling, Klimaaktivistin und österreichisches Sprachrohr der Fridays for Future-Bewegung. Und ein Kollege sagt: „Wir machen weiter, weil von der Stadtregierung die Bestätigung brauchen, dass der Lobautunnel auch wirklich ad acta gelegt wird. Und weil die Stadtstraße zumindest redimensioniert werden muss.“
3: Helene (16), Lena (23) und Sascha (23) vor der Pyramide. Lena Schilling ist als Sprachrohr von Fridays for Future Austria bekannt.
Die eisige Nacht auf Freitag ist einem klaren und sonnigen Morgen gewichen, es ist ruhig geblieben. Vorläufig zumindest. Von der LPD Wien heißt es, dass den Versammlungsteilnehmerinnen keine konkrete Frist für ihren Abzug genannt wurde. Und weiter: „Die LPD Wien wird die Situation beobachten.“ Sollte geräumt werden, wollen die Aktivisten weiter demonstrieren: „Noch am selben Tag in der Stadt“, schreiben sie in einer Gruppennachricht. „Und dann natürlich: Zurück auf die Baustelle! Denn wir sind gekommen, um zu bleiben!“
Titelbild: APA Picturedesk