Samstag, Juli 27, 2024

Skylla & Charibdis: Die Welt, die wir kannten

Verdrängung kann beruhigen. Ab einem gewissen Grad ist sie zersetzend. Die Welt, die wir kannten, ist nicht mehr.

Julya Rabinowich

Wien, 18. April 2022 | Es ist Osterzeit. Es geht um Leben und das Feiern des Lebens. Es geht um religiöse Feste aller Art, denn dieses Jahr fallen einige auf dasselbe Datum. Man könnte davon ausgehen, dass es die Erkenntnis unterstreichen sollte, dass wir alle eins und alle Menschen sind. Menschen mit Hoffnungen, Ängsten, Sorgen und Wünschen. Die sich nicht rasend voneinander unterscheiden. Wir wollen leben, unsere Liebsten in Sicherheit wissen und die Welt nicht am Rande der Selbstvernichtung.

Wenn wir Kinder haben, hoffen wir für sie auf ein besseres Leben. Wenn wir Eltern haben, hoffen wir auf ihr Altern in Sicherheit und Würde. Aber ungeachtet dieser Hoffnungen und Wünsche eskaliert die Lage an mehreren Orten gleichzeitig. In Jerusalem. In der Ukraine. Die Blutflecken auf diversen Untergründen sehen in jedem Ort der Welt gleich aus. Die Möglichkeit eines nuklearen Schlages schwebt über den Osterpinzen und den Schokohasen, den bunten ausgeblasenen Eiern auf Palmkätzchensträuchen. Das Schweigen der Gefolterten, die Berichte der Augenzeuginnen übertönt Glückwünsche.

Der Krieg, der sich jetzt offen zeigt, ist nicht neu. Er ist jetzt nur vollends offenbart. Entschleiert. Unsere Welt hat sich unaufhaltsam und rapide verändert. Man will es nicht so recht wahrhaben, diese Veränderung macht Angst und erschüttert alles, was bis dahin gewisses Gefühl der Sicherheit nährte. Diese Veränderung will also verdrängt werden.

Verdrängung sichert zwar bis zu einem gewissen Grad das eigene Überleben, gefährdet es allerdings ab einem anderen gewissen Grad wieder. Wer mit Warlords wie Putin verhandeln will, setzt offenbar voraus, dass sein Wort Gültigkeit besitzt. Und das wird vorausgesetzt wider besseres Wissen. Weil es selbstverständlich beruhigender ist, die Vorstellung zu haben, dieser Krieg und dieser Kriegsherr seien noch auf irgendeine Art und Weise rational behandelbar. Rational im Sinne einer Demokratie, im Sinne einer Diplomatie, die bestimmten Zugeständnissen und Regeln folgt. Rational klingt immer gut im Rahmen einer nuklearen Bedrohung.

Dann blickt man nach Butscha. Und muss daran denken, was in anderen Orten noch auf Öffentlichkeit wartet oder vielleicht nie gefunden werden wird. Nur die Namen der Vermissten werden eine Zeitlang nachhallen.

Und was sagen Menschen in Russland zu den Entwicklungen? Es ist Ostern, und ich nehme Kontakt auf zu Menschen, die in Russland leben, wie immer zu Ostern. Wie immer zu Pessach. Die einen sind entsetzt, beschämt, verängstigt. Manche wollen Widerstand zeigen, aber sie sind in der Minderzahl, und je länger das so ist, desto gefährlicher ist es für jeden einzelnen von ihnen. Manche habe das Land längst verlassen: übereilt, ohne großer Pläne, ohne großer Aussichten. Die anderen aber, und das sind die bedrückenderen Unterhaltungen, sind fest von dem überzeugt, was die russischen Propaganda-TV-Kanäle bieten. Die Entnazifizierung der Ukraine läuft. Europa hasst die Russen. Das Kriegsschiff hat sich zwar selbst versenkt, aber die Russen müssen dafür nun Rache üben.

Das Schrecklichste an diesen Unterhaltungen ist, dass man mit Logik nicht durchkommt. Noch schrecklicher, wenn man diese Unterhaltungen mit Menschen führen muss, die einem über Jahrzehnte ans Herz gewachsen sind, die man von klein auf kannte. Dabei ist der Bildungsgrad relativ egal. Die Widersprüche, die so offensichtlichen Widersprüche, werden beiseite gewischt. Verdrängung kann beruhigen. Ab einem gewissen Grad ist sie zersetzend. Die Welt, die wir kannten, ist nicht mehr.

Titelbild: APA Picturedesk

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