Die ÖVP ist Beschuldigte im CASAG-Verfahren. Aber war sie auch eine „kriminelle Vereinigung“? Die Frage scheint berechtigt. Die Antwort darauf können neben der Strafjustiz wohl nur die geben, die von Sebastian Kurz bis Karl Nehammer über das nötige Wissen verfügen. Die Unschuldsvermutung gilt jedenfalls für die gesamte ÖVP.
Wien, 24. April 2022 „Nachdem die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zahlreichen hohen Amtsträgern der Partei Verstrickungen in Korruptionsfälle nachgewiesen hatten, geriet die Partei in eine schwere Krise.“
Das berichtet Wikipedia aus dem Jahr 1992. Die Partei war die Demokrazia Christiana, die italienische Schwesterpartei der ÖVP. Zwei Jahre danach verlor die DC ihre letzte Wahl und zerfiel. Dreißig Jahre später scheint die Frage berechtigt: Droht der ÖVP heute dasselbe Schicksal? Eine mögliche Antwort findet sich im österreichischen Strafgesetzbuch.
Kriminelle Vereinigung
„Wer eine kriminelle Vereinigung gründet oder sich an einer solchen als Mitglied beteiligt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen.“
Das steht im § 278 des StGB. Drei Jahre ins Gefängnis – das riskieren viele nur, wenn es sich auszahlt oder wenn man sich sicher ist, dass man nicht erwischt wird. Aber war die ÖVP des Sebastian Kurz eine „kriminelle Vereinigung“? Dazu müssen wir uns Ziffer 2 genauer ansehen.
„Eine kriminelle Vereinigung ist ein auf längere Zeit angelegter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen, der darauf ausgerichtet ist, dass von einem oder mehreren Mitgliedern der Vereinigung ein oder mehrere Verbrechen, andere erhebliche Gewalttaten gegen Leib und Leben, nicht nur geringfügige Sachbeschädigungen, Diebstähle oder Betrügereien, Vergehen nach den §§ 177b, 233 bis 239, 241a bis 241c, 241e, 241f, 283, 304 oder 307, in § 278d Abs. 1 genannte andere Vergehen oder Vergehen nach den §§ 114 Abs. 1 oder 116 des Fremdenpolizeigesetzes ausgeführt werden.“
Das klingt verwirrender als es ist. Also:
- Die ÖVP ist „ein auf längere Zeit angelegter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen“. Das wird nicht einmal von Wolfgang Sobotka bestritten.
- Die Vereinigung muss darauf ausgerichtet sein, Verbrechen zu begehen, also Straftaten, die mit mehr als drei Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind. Das klingt nicht gut für die ÖVP: Unter den Verbrechen finden sich Untreue, Amtsmissbrauch, der Verrat von Amtsgeheimnissen und die Anstiftung dazu. Die Verdachtsmomente gegen Wolfgang Sobotka passen da genauso hinein wie jene gegen Wolfgang Brandstetter und August Wöginger.
- Zu den Verbrechen kommen die „Vergehen“, also die Straftaten, bei denen es um weniger als drei Jahre geht. Da würde es auf den ersten Blick für die ÖVP besser aussehen. § 233? Fehlanzeige. „Weitergabe oder Besitz nachgemachten oder gefälschten Geldes“ wird der ÖVP bisher nicht vorgeworfen. Auch Verhetzung nach § 283 oder Terrorismusfinanzierung nach § 278d wird niemand Kurz, Sobotka & Co. vorwerfen.
- Aber da sind noch zwei Paragrafen: 304 und 307, die Bestechlichkeit und die Bestechung. Das sind neben dem Amtsmissbrauch und dem Verrat von Amtsgeheimnissen die Straftaten, die sich von Sebastian Kurz bis Thomas Schmid am häufigsten am Aktendeckel finden.
- Es geht längst nicht nur um Einzelpersonen. Im CASAG-Verfahren ist die ÖVP als Partei nach dem Verbandsverantwortlichkeitsgesetz Beschuldigte: als Anstifterin zur Untreue und zur Bestechlichkeit.
- Im Fall „Karmasin“ geht es um Delikte bis „zumindest Frühjahr 2018“. Karl Nehammer war ab Jänner 2018 Generalsekretär der beschuldigten Partei.
- Jetzt kommen mit „Cobra Libre“ und „Wirtschaftsbund-Inserate“ weitere Affären und Prozesse auf die ÖVP zu.
gegen die Mafia
Aber – könnte ein Einwand an dieser Stelle lauten – vielleicht geht es gar nicht um die „kriminelle Vereinigung“. Es gäbe doch eine verwandte Bestimmung, die vielleicht noch besser passen könnte. Darin heißt es:
„… die dadurch eine Bereicherung in großem Umfang anstrebt und die andere zu korrumpieren oder einzuschüchtern oder sich auf besondere Weise gegen Strafverfolgungsmaßnahmen abzuschirmen sucht…“
Nicht nur in Vorarlberg klingt es unglaubwürdig, wenn ÖVP-Spitzen ihr Desinteresse an Bereicherung bekunden. Manche zahlten freiwillig, weil sie glaubten, dass ihre Parteispenden gut investiert wären. Andere zahlten, weil sie glaubten, dass sie müssten. Langsam werden die Spuren der Gelder und die Methoden der Kassiere sichtbar.
Wahrscheinlich fühlten sich viele sicher. Jahrelang sind Verfahren niedergeschlagen und statt der Tatverdächtigen Hinweisgeber verfolgt worden. Erst jetzt wird erkennbar, welche Verfahren geführt und welche „daschlogn“ wurden. Der ÖVP-Untersuchungsausschuss versucht zu klären, ob die ÖVP durch das System „Pilnacek/Fuchs/Holzer/Schneider“ bis ins Jahr 2021 vor Strafverfolgung gut abgeschirmt war.
Die Bestimmung des §278a beschreibt die „kriminelle Organisation“. Der Gesetzgeber wollte mit ihr das Aufkommen der Mafia in Österreich verhindern. Als der § 278 im Nationalrat beschlossen wurde, dachte wohl niemand an die ÖVP.
Mittäter
Ziffer 3 macht alle Mitwisser und Mitdulder an der Spitze der Vereinigung zu möglichen Mittätern:
„Als Mitglied beteiligt sich an einer kriminellen Vereinigung, wer im Rahmen ihrer kriminellen Ausrichtung eine strafbare Handlung begeht oder sich an ihren Aktivitäten durch die Bereitstellung von Informationen oder Vermögenswerten oder auf andere Weise in dem Wissen beteiligt, dass er dadurch die Vereinigung oder deren strafbare Handlungen fördert.“
Es gibt einen Ausweg. Den beschreibt Ziffer 4:
„Hat die Vereinigung zu keiner strafbaren Handlung der geplanten Art geführt, so ist kein Mitglied zu bestrafen, wenn sich die Vereinigung freiwillig auflöst oder sich sonst aus ihrem Verhalten ergibt, dass sie ihr Vorhaben freiwillig aufgegeben hat.“
Aber dazu könnte es zu spät sein, falls alle Verdachtsmomente zutreffen würden. Nach der Parteibuchwirtschaft in Wien und Niederösterreich fliegt jetzt der Verdacht auf Missbrauch von Inseratengeldern in Vorarlberg der taumelnden Partei um die Ohren. Ein Leck nach dem anderen reißt den Parteitanker auf. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die ÖVP nicht mehr über Wasser halten kann.
plötzlich alles möglich
Dann drohen italienische Verhältnisse. Auch dort machten Staatsanwälte ernst. Als die Dämme der politischen Vertuschung brachen, war es für eine ruhige rechtsstaatliche Aufarbeitung zu spät. „Mani Pulite“, die „sauberen Hände“, brachten nicht nur alles ans Licht, sie gaben den Regierungsparteien DC und PS auch den letzten Stoß.
Aber es gab noch keine politische Alternative. Und so gab es nach dem Zusammenbruch auch keinen Neuanfang. In Italien machte der Untergang der DC den Weg für Berlusconi frei. Hier in Österreich weiß niemand, was nach mehr als 25 Jahren ÖVP-Herrschaft in Bundesregierungen mit wechselnden Partnern kommt. Kaum jemand kann sich vorstellen, dass die ÖVP von Bregenz bis St. Pölten einbricht und zerfällt. Aber das ist die Eigenart der politischen Existenzkrise: Plötzlich ist alles möglich.
Auch beim Regierungspartner, den Grünen, scheinen viel zu wenige zu verstehen, dass man es nicht so weit kommen lassen sollte.
(ergänzt um 8.22 Uhr)
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