Zwei Parteitage und eine Chance: Während Karl Nehammer ohne Gegenstimme zur Geisel von Ländern und Bünden gewählt wurde, macht Hans Peter Doskozil seiner SPÖ ein Angebot für eine politische Wende.
Wien, 15. Mai 2022
Hätte der Kapitän der Titanic mitten im Untergang die Vertrauensfrage gestellt, hätte er wohl 100 Prozent bekommen. Dann wäre er als „Käpt´n 100 Prozent“ mit Mann, Maus und Schiff abgesoffen. Seit gestern ist Karl Nehammer „Käpt´n ÖVP“. Nur der Eisberg steht noch nicht fest.
In Oberwart hat sich Hans Peter Doskozil seiner Wahl gestellt. Mit 97,8 Prozent liegt er klar hinter Nehammer. Aber seine Probleme sind lösbar, wenn seine Partei es will.
Vorwärts nach unten
Beide Parteichefs haben ein Programm und eine Strategie. Nehammer kann beides in einem Satz zusammenfassen: „Ich will euer Kanzler bleiben.“ Die Chefs der Länder und Bünde haben das Angebot angenommen und machen sich jetzt ihren Karl. Die nordkoreanische Dimension des Wahlergebnisses deutet nicht auf Alleinherrschaft, sondern auf das garantierte Ausbleiben aller dringenden Reformen im System von St. Pjöngjang hin. Von Pflege bis Teuerungsausgleich, von Klimakatastrophe bis Asylelend, von Kriegsgewinnen der Konzerne und Kriegsverlusten der Menschen wird Nehammer nichts anrühren, weil Länder und Bünde selbst entscheiden und damit garantieren, dass sich nichts bewegt. Der türkise Lack ist ab. Der Käpt´n steht hilflos am Ruder des löchrigen Schiffs. Die Richtung steht fest: Es geht nach unten. Der Boden ist noch nicht in Sicht.
Engagiert in der Hängematte
Im Gegensatz zu Nehammer hat Doskozil Zukunft. Stück für Stück versucht er, sein Burgenland zum Modell zu machen. Mindestlohn, Anstellung pflegender Angehöriger, Pflegestützpunkte, kostenlose Nachhilfe, Klimaneutralität und ein Paket gegen Korruption und Parteienkauf sind Wegweiser. Das Oberwarter Angebot gilt der SPÖ. Ein roter Landeshauptmann zeigt, dass große Reformen von Einkommen bis Pflege, von Klima bis Bildung machbar sind. Erstmals macht er klar, dass das ohne ÖVP geht, weil es nur ohne ÖVP gemacht werden kann.
Doskozils Burgenland macht sich auf den Weg. Unter normalen Umständen würde er ins Bundeskanzleramt führen. Aber die Umstände in der SPÖ sind alles andere als normal. Die Partei, die längst die Alternative zur ÖVP sein sollte, schaukelt engagiert in der Hängematte. Niemand traut ihrer Chefin Böses zu. Aber kaum jemand glaubt, dass sie es kann. Vielleicht trägt sie die Schwäche der anderen bis ins Kanzleramt. Aber dort beginnt dann nichts Neues, weil Pamela Rendi-Wagner im Gegensatz zu Doskozil nichts Neues vorbereitet hat. Die Gefahr ist groß, dass sie dort „Verantwortung übernimmt“ – und mit ihr einen Regierungsmühlstein namens ÖVP.
Mit links
Doskozil hat gelernt, dass er seine Partei nicht selbst zur Entscheidung drängen darf. Das müssen andere übernehmen. Diese anderen sitzen in Wien und im ÖGB. Sie wissen, dass sie entscheiden müssen. Unter normalen Umständen würden sie vorsichtig den Rückzug in eine große Koalition versuchen. Aber die Koalition mit der ÖVP ist nicht mehr groß, und die Zustände sind nicht mehr normal. Rot-pink-grün oder schwarz-blau, darum geht es bei einer Entscheidungswahl. Diese Wahl kann mit links gewonnen werden.
Trotzdem erwarten immer noch viele, dass Doskozil nachgibt und sich „integriert“. Aber warum verlangt das niemand von Rendi-Wagner? Warum kommt niemand auf die Idee, dass sie gemeinsam mit dem burgenländischen Landeshauptmann nicht nur eine Wahl gewinnen, sondern auch eine Wende schaffen könnte?
Viel Zeit bleibt nicht. Wenn die SPÖ nicht rechtzeitig auf die Füße kommt, werden andere ihre Aufgabe übernehmen. Nur für Karl Nehammer scheint das egal. Er hat andere Probleme.
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