Samstag, Juli 27, 2024

Die müde Republik – Kommentar zur Präsidentenwahl

Kommentar zur Präsidentenwahl

Bierpartei-Kandidat Pogo bekommt viel Kritik, er sei ein „Spaßkandidat“, heißt es. Doch das Grundproblem ist ein anderes. Van der Bellen ist Symptom einer müden politischen Mitte, die dem System Kurz zu lange nichts entgegengesetzt hat. Brexit, Trump und Co. zeigen: Das könnte sich rächen.

Benjamin Weiser

Wien, 20. Juni 2022 | Österreich taumelt in eine Bundespräsidentenwahl, die bereits als entschieden gilt. Einziges Thema scheint, ob Bierpartei-Kandidat Marco Pogo ein seriöser Kandidat ist oder nicht. Einen studierten Mediziner, der Bier verkauft und mit seiner Partei auf Wiener Bezirksebene mitentscheidet, muss man nicht mögen.

Aber ihn belächeln und als „Spaßkandidaten“ niedermachen, ist arrogant. Und es ist brandgefährlich. Denn das könnte die wirklichen Risiken bei dieser Wahl überdecken. Am Ende könnte ein Rechtsaußen-Kandidat der lachende Dritte sein.

Brexit? In den Augen vieler Experten einst unmöglich. Jetzt ist das Vereinigte Königreich nicht mehr EU-Mitglied. Donald Trump? Ein Irrer, der gegen Hillary Clinton verlieren wird, hieß es. Auf einmal saß der Donald im Weißen Haus. Einen Sturm aufs Kapitol und eine müde Amts-Halbzeit Joe Bidens später, ist die Angst vor Trump zurück.

Sprachlos bei Kurz

Was das mit der Bundespräsidentenwahl zu tun hat? Eine Menge. Alexander Van der Bellen blieb hinter seinen Erwartungen zurück. Bei HC Strache und Herbert Kickl schien er noch konsequent, doch als die ÖVP unter Sebastian Kurz die besoffenen Ibiza-Träume offensichtlich verwirklichte, schwieg der mittige Grüne.

Damit festigte er eine in Teilen antidemokratische Kraft, eine mutmaßlich hochkorrupte Gruppe aus rechtspopulistischen „Huren der Reichen“, wie es in den Schmid-Chats verschriftlicht ist.

Keine Frage, Van der Bellen ist der erfahrenste aller Kandidaten. Aber er muss sich verantworten und neu beweisen. Dafür braucht es einen echten Wahlkampf. Doch gegen wen tritt der Amtsinhaber eigentlich an?

Dass ÖVP und SPÖ auf einen Kandidaten verzichten, ist Beleg eines fortschreitenden Verfalls des politischen Systems. Das muss nichts Schlechtes sein, doch die besseren Alternativen sind zumindest bei der kommenden Präsidentenwahl im Herbst noch nicht da.

Also schart sich das Establishment um den logischen Kandidaten. Credo: Bei Van der Bellen weiß man wenigstens, woran man ist. Stabilität! Was für ein Trugschluss. Der Grüne ist damit aufgefallen, in wichtigen Momenten dieser fragilen Republik über Wochen hinweg sprachlos gewesen zu sein. Seine Amtszeit ist Zeichen einer müden politischen Mitte, die dem System Kurz zu lange zugesehen hat. Die es in Teil sogar gestützt hat. Und jetzt so tut, als wäre Marco Pogo das Hauptproblem.

Böses Erwachen droht

Den wirklich gefährlichen Kandidaten kann das nur gefallen. Rechtsaußen wartet der oft belächelte „Oe24-Schreihals“ Gerald Grosz. Seine Fangemeinde, die von enttäuschten FPÖ-Anhängern über Anti-Corona-Fanatiker bis hin zu Putin-Fans reicht, dürfte größer sein als manche vermuten. Sie ist auf Social Media, verschmäht klassische Medien, schafft sich eigene Kanäle. Kämen Grosz oder ein anderer Rechtskandidat in die Stichwahl, säße der Schock tief und die große Angst in der Stichwahl wäre wieder da.

Bevor dieser Wahnsinn überhaupt möglich wird, sollte man sich kritisch mit Van der Bellen auseinandersetzen. Marco Pogo wird das tun. Auf eine demokratische Art. Vielleicht auch auf eine satirische. Na und?

Auch Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj war einst Komiker. Dann wurde er gewählt, weil die Ukrainer die korruptionszerfressenen Eliten satt hatten. Jetzt ist er ein Präsident, der das Fluchtangebot der Amerikaner in den ersten Stunden des Krieges abgelehnt und sein Land nicht im Stich gelassen hat. Auch seine Gegner müssen das anerkennen.

Fakt ist: Wer nicht wahlkämpft, wird verlieren. Doch dazu muss der Wahlkampf überhaupt erst zugelassen werden. Sonst werden wir uns „noch wundern, was alles möglich ist“.

Titelbild: APA Picturedesk

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