Vor Nehammers Ende:
Wie wird die ÖVP den Bundeskanzler los? Aus der alten Frage nach dem Abservieren einer Person ist erstmals die Frage nach dem Aufgeben des Amtes selbst geworden. Aber wie wird die ÖVP das Kanzleramt los?
Wien, 24. Juli 2022 Wenn Bundeskanzler der ÖVP nicht mehr wissen, wie es weitergeht, trudeln Kinderbriefe ein. Karl Nehammer hat gerade das Stadium, in dem er die buchstabierende Kinderhand braucht, erreicht. Ein Kinderbrief ist von Nehammers PR-Leuten nicht veröffentlicht worden. Darin schreibt „Sara“:
„Lieber Bundeskanzler Nehamer!
Bei uns in der 2. Klasse sagen alle, dass du doof bist. Stimmt das wirklich?
Sara, 7 Jahre“
Die kleine Sara spricht etwas aus, was sich viele Große in den Medien nicht trauen: Karl Nehammer ist nicht nur sachlich und charakterlich seiner Aufgabe nicht gewachsen. Er ist nicht nur mit der Sicherung seiner absturzgefährdeten Partei überfordert. Es scheint einen Grund zu geben, der einer ÖVP unter seiner Führung jede Hoffnung nimmt: Karl Nehammer kann es einfach nicht. Man muss ja nicht unbedingt „doof“ dazu sagen.
Der Gesamtwitz
Man erkennt das nicht nur an Nehammers Auftritten, in denen sich Viren, Alkohol und Psychopharmaka zu einem Gesamtwitz mischen. Man erkennt das vor allem in den seltenen Situationen, in denen er instinktiv etwas Vernünftiges versucht, wie bei den Übergewinnen der Energiewirtschaft. Nehammer hat einen Einfall, kassiert die Ohrfeigen und zieht den Schwanz ein. Dass der Einfall eine gute Idee sein könnte und dass es seine Aufgabe wäre, daraus eine Idee, einen Vorschlag und dann eine politische Initiative zu machen, weiß er offensichtlich nicht.
Bei Figl und Schüssel, Kreisky und Vranitzky und auch bei Klima und Gusenbauer hätte niemand am Ausmaß ihres Verstands gezweifelt. Aber Karl Nehammer sitzt nicht auf Grund seiner Fähigkeiten im Kanzleramt. Er sitzt dort, weil sich das niemand mehr antut. Nehammer ist der Kanzler, mit dem die ÖVP nach 36 Regierungsjahren auf Bundesebene untergeht. Karl der Letzte zieht sich immer noch stolz die Kapitänsuniform an. Er scheint noch immer nicht zu verstehen, warum er noch da ist: Wenn das Schiff zum Untergang verurteilt ist, kommt es nicht mehr auf den Kapitän an.
Hinter schwarzen Kulissen
Während sich der Kanzler bei possenhaften Auftritten blamiert und Halt an erfolgreicheren Staatschefs wie Erdogan und Orbán sucht, rumort es hinter den schwarzen Kulissen. ÖVP-Landeshauptleute und Wirtschaftsvertreter „sondieren“. Sie sprechen seit Wochen bei Spitzen der SPÖ vor, um auszuloten was geht. Den Kanzler haben sie still und heimlich aufgegeben, nicht nur die Person Nehammer, sondern das ganze Amt.
Jetzt hat gleich hinter der Wiener Stadtgrenze eine neue Debatte in der ÖVP begonnen: Wie soll die Partei in Niederösterreich und Tirol Wahlen in ihren Ländern überleben? Muss die ÖVP dazu aus der Regierung kommandiert werden? Und was passiert dann?
In Zeiten, in denen sich jeder Stein vom anderen löst, verliert man auch beim bloßen Beobachten leicht die Übersicht. Wie bei der Gasnot helfen auch hier Szenarien:
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Fliegender Wechsel
Ein fliegender Wechsel wäre das einfachste. Aber erstens sind weder SPÖ noch FPÖ dazu bereit. Und zweitens würde er nicht zum Ziel der Länder-Volksparteien führen: zum Verlust der Kanzlerschaft. Nicht einmal Pamela Rendi-Wagner könnte ihre Partei überzeugen, dass eine geschenkte Kanzlerschaft gerade jetzt ein gutes Geschäft wäre.
Das ist das wirklich Neue am langen ÖVP-Absterben: dass immer mehr in der Volkspartei glauben, dass man die Kanzlerschaft in Wien vor der großen Winterkrise loswerden muss, damit man gegen Wien und das Bundeskanzleramt noch Stellungen von St. Pölten bis Innsbruck behaupten kann.
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Neuwahlen
Also Neuwahlen. Aber was passiert da? Da ist unübersichtlich viel möglich:
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Mit der SPÖ
Wahrscheinlich kann das nicht einmal die SPÖ-Spitze verhindern: Die SPÖ gewinnt die Wahl zwischen den bestehenden Parteien hoch. Nach der Wahl könnten sich vom Wiener Bürgermeister bis zum ÖGB-Chef Schwergewichte der Partei zurück in die Vergangenheit sehnen, in die gute alte Zeit des Proporzes und der funktionierenden Aufteilung des Landes zwischen ÖGB und Industriellen. Dazu versuchen SPÖ und ÖVP gemeinsam, das Rad der Geschichte vor Wolfgang Schüssel zurückzudrehen. Aber aus Sozi-Hass wird nicht über Nacht Sozi-Liebe. Und der Winter verlangt vor allem eines: klare und harte Entscheidungen gegen Massenarmut, Klimawandel und Pandemie.
Genau das geht mit der ÖVP nicht. Traditionell funktioniert die alte Koalition nur, wenn die Kanzlerpartei SPÖ von Vermögenssteuern bis Armutsbekämpfung, von CO2-Steuer bis Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens auf ÖVP-Linie schwenkt. Das geht schon in ruhigen Zeiten nicht mehr so wie früher. Aber diesmal dauert es wahrscheinlich nur Monate, bis in der Winterkrise wieder der tote Punkt erreicht ist.
Oder stellt Rendi-Wagner auch gegenüber der ÖVP die „Machtfrage“? Das scheint ebenso wahrscheinlich wie das Stellen der Ehrlichkeitsfrage durch Sebastian Kurz.
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Ampel
Aus St. Pöltner Sicht wird die Ampel aus Rot, Pink und Grün immer attraktiver. Mit einer schwachen Rendi-Wagner-Kanzlerschaft und Grünen, die sich als schwer beschädigtes ÖVP-Anhängsel in die nächste Regierung hineinwursteln, ist mitreißende Politik kaum zu befürchten. Aber die ÖVP selbst würde bei Nationalratswahlen tief abstürzen und dann in der Opposition hinter einer hemmungslosen FPÖ nachhecheln. Nur auf eines könnte man zumindest hoffen: dass sich die Mehrheit bald wieder über die Mitte nach rechts verschiebt.
Wenn die Landesparteien der ÖVP ihre nächsten Wahlen überleben, haben sie Zeit. Nach wie vor wollen sie die Zugänge zu den Wiener Töpfen offenhalten. Aber wenn es ums eigene Überleben geht, muss man wohl eine Bundesbudget-Fastenzeit in Kauf nehmen.
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Neue Parteien
All diese Rechnungen funktionieren nur ohne neue Parteien. In einer Aussprache scheint es Rendi-Wagner gelungen zu sein, Christian Kern vom Projekt „Alpen-Macron“ vorläufig abzubringen. Kern weiß, dass seine Kandidatur vor allem die SPÖ treffen würde. Wenn dann mit SPÖ, ÖVP, FPÖ und Kern vier Parteien gleichauf liegen, kann der Ex-Kanzler kaum hoffen, mit der von ihm geschlagenen SPÖ und einer dritten Partei zu regieren.
Aber eine linke, volksnahe Partei, in der sich Expertinnen von Energiepolitik und fairer Verteilung bis zu Einwanderungspolitik und Korruptionsbekämpfung zusammentun und glaubhaft machen, dass sie den überfälligen Kurswechsel wollen und können, würde den Strich durch alle Rechnungen machen. Von ihr ist weit und breit nichts zu sehen.
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Weitermachen
Also bleibt als Letztes die klassische Lösung: weitermachen bis zum Ende. Ein Grund spricht dafür: Zum ersten Mal seit Umfragezeiten sind alle Regierungsmitglieder ins Minus abgestürzt. Nicht einmal dreißig Prozent der Wählerinnen und Wählern wollen noch etwas von Schwarz-Grün wissen. Die beiden Parteien fallen frei. Aber ihre Noch-Spitzen wissen: Von Nehammer bis Kogler und von Wöginger bis Maurer wird kaum jemand aus dem diskreditierten Personal bei einem Neubeginn dabei sein. Sie alle stehen vor der Frage nach ihrer Existenz: Dienstwagen oder Straße.
Also schließen sie sich von Menschen und Realität ab, lassen sich von Beratern die Zahlen anders erklären und stecken noch mehr Steuergeld in PR. Schließlich haben sie von Nehammers Vor-Vorgänger gelernt, dass man sich öffentliche Meinung kaufen kann.
Von Masken und Quarantäne bis zu Stromgewinn-Besteuerung, Tempo 100 und CO2-Abgabe zeigt die geschwächte ÖVP den Grünen, wer noch immer Chef ist. Irgendwann im Winter holt die Realität beide ein. Die Grünen stellen fest, dass statt des Anstandes das Elend bei ihnen eingezogen ist. Und die ÖVP?
Das Ende des Tunnels
Wenn man im Regierungstunnel das erste Licht schimmern sieht, weiß man, dass dieses Stück der Fahrt zu Ende geht. Man sieht noch nicht außer dem bisschen Licht. Aber in der Politik weiß man, dass es zwei Möglichkeiten gibt: Nach der Ausfahrt aus dem Tunnel wird es besser oder noch schlechter. Damit es besser wird, muss man selbst etwas tun. Von selbst wird alles nur schlechter.
Schönen Sonntag!
Peter Pilz
Titelbild: APA Picturedesk