“Nehammer wirkte wie ein ungelenker Novize”, “Nehammer hätte wissen müssen, wen er einlud”: Die internationale Presse ließ kein gutes Haar am österreichischen Bundeskanzler, der Viktor Orbán am Donnerstag hofierte.
Wien, 29. Juli 2022 | Zum Besuch des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán bei Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) in Wien am Donnerstag schreiben am Freitag die internationalen Zeitungen:
“Népszava” (Budapest):
“Nehammer hätte wissen müssen, wen er einlud. Einen Politiker, der in zahlreichen Fällen die demokratischen Grundwerte verletzte (…) und der in Hinblick auf den Krieg (in der Ukraine) offen die russische Position vertritt, in einer Zeit, in der die EU Zusammenhalt mehr denn je benötigen würde. Und der (wie in seiner jüngsten Rede über ‘Gemischtrassige’) bereit ist, im Machtrausch jede rote Linie zu überschreiten. Den seine Anhänger selbst dann frenetisch feiern, wenn er Hass predigt und andere demütigt. (…) Nehammer wird den Makel nie mehr von sich abwaschen können, einen Politiker in sein Land eingeladen zu haben, der Tabus verletzt und der die Erinnerung an die finstersten Perioden der Geschichte wieder aufleben lässt.”
“Spiegel Online” (Berlin):
“Viktor Orbán hat seine Einladung ins Wiener Kanzleramt genutzt, um eine Show der besonderen Art abzuziehen. Die Pressekonferenz im Palais am Ballhausplatz geriet zu einem Lehrstück dafür, was passiert, wenn man einem Demagogen wie dem ungarischen Premier ohne Not eine Bühne bietet.
Der gastgebende österreichische Regierungschef Karl Nehammer wirkte neben dem ausgebufften Routinier Orbán zeitweise wie ein ungelenker Novize. Nehammer stand an diesem Tag stellvertretend für einen fairen, solidarischen Europäer, der auf EU-Linie lag und alles korrekt machen wollte. Aber er scheiterte von Minute zu Minute mehr an seinem Gast, weil dieser sich nicht um Regeln scherte, die ihm nichts nützen.”
“Frankfurter Allgemeine Zeitung”:
“Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán ist seit vielen Jahren ein Meister der mehr oder weniger subtilen Provokation. Er sagt gern Dinge, die Anstoß erregen. Wenn er für seine Äußerungen kritisiert wird, gibt er die verfolgte, falsch verstandene Unschuld. Bei seinem Besuch in Wien am Donnerstag sagte er, es komme immer wieder einmal vor, dass er sich missverständlich ausdrücke. Selbstverständlich sei er kein Rassist. Diesen Schluss hatten Orbán-Kritiker aus einer Ansprache vom vergangenen Wochenende in Rumänien gezogen. (…)
Viele Beobachter stellen sich seit Jahren die Frage, ob Orbán alles das, was er von sich gibt, wirklich glaubt oder ob ‘nur’ zynisches politisches Kalkül am Werk ist. (…) Ein solches Vorgehen kennt man von Populisten aus vielen Ländern. Viktor Orbán hat sich nach eigenem Bekunden immer eng mit Helmut Kohl verbunden gefühlt. Nur gut, dass der (deutsche) Kanzler der Einheit nicht mehr erleben muss, welches Spiel sein ‘Freund’ spielt.”
“Frankfurter Rundschau”:
“Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán – der ‘Bad Boy’ in der EU – blockiert regelmäßig gemeinsame Entscheidungen, gilt seinen Kritiker:innen als korrupter Regierungschef mit Hang zur Autokratie und ist deswegen in der EU weitgehend isoliert. Am Donnerstag war es damit vorläufig vorbei: Der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer empfing Orbán in Wien mit militärischen Ehren – und kritisierte erst einmal dessen jüngste Verbalausfälle.
Vergleiche zwischen der Shoah und der aktuellen Energiekrise in der EU seien nicht akzeptabel, sagte Nehammer, der der konservativen Österreichischen Volkspartei angehört. Das wollte er als deutliche Kritik an Orbáns Äußerungen vom vergangenen Wochenende verstanden wissen. (…) Nach der Kritik Nehammers versuchte Orbán, seine Äußerungen zu relativieren. ‘Dass ich manchmal missverständlich formuliere, das kommt vor’, sagte er. Generell aber verfolge Ungarn beim Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus eine Strategie der ‘Null-Toleranz’, behauptete er.”
“Neue Zürcher Zeitung”:
“Würde Nehammer auf die Aussagen Orbans Bezug nehmen, und würde dieser darauf zurückkommen?, fragten sich nun auch jene, die offizielle Besuche von Politikern sonst für eine langweilige Routinesache halten. Entsprechend gross war das Medieninteresse. Nehammer äusserte sich dann aber ähnlich zurückhaltend wie Orban zuvor. ‘Wir weisen jede Form der Verharmlosung von Rassismus und Antisemitismus zurück’, sagte er eher floskelhaft. Offensichtlich bemühte sich der österreichische Kanzler darum, die Angelegenheit nicht nochmals hochkochen zu lassen – zu wichtig ist Ungarn als Partner.
Der gewiefte Rhetoriker Orban war etwas gesprächiger. Mit dem Begriff ‘Rasse’ habe er keine biologische Beurteilung vorgenommen, sondern eine kulturelle, sagte er. (…) So verständlich die Empörung über die Aussagen ist: Der Politiker hat am Wochenende nicht zum ersten Mal einen tiefen Einblick in sein Gedankengebäude gegeben, mit dem er die Wähler am rechten Rand an sich binden will. Weil das Land wirtschaftlich gerade sehr schwierige Zeiten durchmacht, sah es Orban offenbar als notwendig an, die Rhetorik im Vergleich mit früheren Jahren nochmals zu verschärfen und mit einer Geschmacklosigkeit zusätzlich zu würzen.”
“tageszeitung” (Berlin):
“In einem waren sich Ungarns Premier Viktor Orbán und Österreichs Kanzler Karl Nehammer einig: Die ‘irreguläre Migration’ müsse eingedämmt werden. Und diesem Thema hatte ja auch der Besuch des Nachbarn in Wien gegolten. Als Dritten im Bunde will man Serbien ins Boot holen. ‘Wir sind an der Südgrenze Ihre Burghauptmänner’, zog Orbán Parallelen zum mittelalterlichen Mongolensturm: ‘Wenn wir die Grenzen nicht schützten, würden illegale Migranten zu Hunderttausenden bei Ihnen eintreffen.’
(…) Dutzende Presseleute, die den Saal im Bundeskanzleramt am Wiener Ballhausplatz füllten, wollten aber nicht über neue Abwehrpläne gegen Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten informiert werden, sondern hören, wie Nehammer auf die jüngsten Ausfälle seines ungarischen Amtskollegen reagierte. (…) Nehammer ging zwar nicht direkt auf diese Rede und einen geschmacklosen Witz seines Gastes über deutsche Gaskammern ein, verwies aber auf die besondere Verantwortung Österreichs angesichts der eigenen Geschichte. Verharmlosung von Rassismus oder Antisemitismus seien auf das Schärfste zurückzuweisen. Diese sensiblen Fragen seien ‘in aller Freundschaft, Offenheit und Klarheit’ besprochen und aufgelöst worden.”
(apa/bf)
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