Samstag, Juli 27, 2024

Der Tod einer Ärztin

Lisa Maria Kellermayr wollte weiterleben und als Ärztin arbeiten. Dafür hätte sie Schutz und Hilfe gebraucht, von Polizei, Ärztekammer und Gesundheitspolitik. Bis zum Schluss hat sie darauf gewartet.

 

Wien, 31. Juli 2022   „Wenn ich die Ordi aufgebe, bin ich im Privatkonkurs, dann kann ich nicht Gesundheitspolitik machen, und die Ordi weiterführen geht auch nicht, weil ich kein Personal habe, und der Vorschlag, ich soll jetzt ein paar Monate zur Ruhe kommen, geht auch nicht, weil dafür habe ich kein Geld. (…) Also bleibt mir wirklich noch was über?“ Am 24. Juli 2022 schickt die oberösterreichische Ärztin Lisa-Maria Kellermayr diese Sprachnachricht um 15.32 Uhr einer Freundin. Ihre Stimme ist ungewohnt leise, sie klingt verzagt. Fünf Tage später nimmt sie sich das Leben.

Im Visier

„Ich werde dich hinrichten!“ Mit diesem Mail beginnt am 22. November 2021 um drei Uhr Früh die schwere Zeit der Hausärztin Lisa-Maria Kellermayr. Am Ende hat sie eine siebenmonatige Tortur nicht mehr ertragen.

Pia Miller-Aichholz hat im Juni 2022 auf ZackZack die COVID-Geschichte von Lisa-Maria Kellermayr detailliert von ihrem Start in Seewalchen bis zum Zusperren der dortigen Praxis beschrieben.

Alles beginnt mit einem Tweet, in dem die Ärztin am 16. November 2021 den Angriff der COVID-Hasser auf das Krankenhaus Wels beschreibt: „Heute in Wels: Eine Demo der Verschwörungstheoretiker verlässt den Pfad unter den Augen der Behörden und blockiert sowohl den Haupteingang zum Klinikum als auch die Rettungsausfahrt des Roten Kreuzes.“ Eine der ersten Reaktionen kommt von „POLIZEI OÖ“: „Zu den Falschmeldungen bzgl. Demo in Wels: rund 600 Teilnehmer hielten vor dem Krankenhaus eine Versammlung ab. (…) Es kam dabei weder zur Behinderung von Rettungskräften noch zu sonstigen Straftaten oder Übertretungen.“

Der Tweet von Kellermayr ist ungenau: Das Krankenhaus wurde von Hassern belagert, die Hauptzufuhr blockiert, Ärzte und Pflegerinnen beschimpft und bedroht. Aber eine Gasse blieb frei. Doch das Problem schafft der irreführende Gegentweet der Polizei.

Beide wissen nicht, was der Tweet der Polizei auslösen wird. Plötzlich findet sich Kellermayr in den Visieren der Hasser. Die Landärztin, die leicht erreichbar und ungeschützt am Raiffeisenplatz in Seewalchen ordiniert, ist die ideale Zielscheibe. Das Kellermayr-Treiben beginnt.

Zahlen oder zusperren

Die Ärztin steht schnell vor der Wahl: Sie sperrt zu – oder sie investiert in Sicherheit. Kellermayr macht weiter und investiert mehr als 77.000 Euro von Sicherheitstüren bis Personenschutz.

Innenministerium, Verfassungsschutz und oberösterreichische Polizei sehen keinen Grund, Personenschutz für Kellermayr abzustellen. Kellermayr ist Ärztin und keine Kanzlergattin, die sich Personenschützer aus dem Cobra-Katalog aussuchen kann.

„Nur Aufmerksamkeit“

Am 21. Februar 2022 erhält Kellermayr eine neue Drohung: „Frau Dr. Kellermayr, wir beobachten Sie, und wir werden solche Kreaturen vor die in Zukunft einzurichtenden Volkstribunale bringen!“ Diesmal ist der Hassposter hinter der Adresse „dogcarrier.de“ leicht auszuforschen. Die bayrische Kriminalpolizei informiert ihre Kollegen in Oberösterreich: „Herr R.M. trat im deutschen Bundesgebiet zahlreiche Male polizeilich in Erscheinung (u.a. wg. Diebstahl, Bandendiebstahl, Urkundenfälschung, Betrug, Untreue, Körperverletzung, gef. Eingriff in den Straßenverkehr, usw. gem. StGB)“.

Der Staatsanwalt in Wels erhält den Bericht der Kriminalpolizei am 13. Juni 2022  – und stellt die Ermittlungen „aus rechtlichen Gründen“ einen Tag später ein. Niemand in der oberösterreichischen Polizei kommt auf die Idee, die Ärztin vor einem gewaltbereiten Serienkriminellen, der es über die bayrische Grenze nicht weit zur Ordination in Seewalchen hat, zu schützen. Auch jetzt bleibt Kellermayr allein. Nur ab und zu fährt ein Streifenwagen vorbei, und freundliche Beamte erkundigen sich nach besonderen Vorfällen.

Im Akt ist die Reaktion der Beamten „ho.“, also „hierorts“, festgehalten: „Insgesamt wurde ho. zunehmend der Eindruck gewonnen, dass Frau Dr. Kellermayr sich über verschiedene „Schienen“ bemüht, die öffentliche Wahrnehmung ihrer Person zu erweitern, indem sie Druck auf die Ermittlungsbehörden ausübt“.

Die Polizei bietet Kellermayr statt Ermittlungen einen Rat. Der Kurier berichtet: “Wie üblich sei laut Polizeisprecher David Furtner die Gefährdungslage neu beurteilt worden. Es bestehe keine Gefahr mehr für Frau Kellermayr.“  Dann nimmt sich Furtner die bedrohte Ärztin vor: „Zudem bekrittelte er, dass sich die Frau immer wieder an die Öffentlichkeit wende. Es entstünde der Eindruck, als wolle sie nur Aufmerksamkeit. Im Ö1-Mittagsjournal fügte er noch hinzu, dass die Ärztin vielleicht selbst Hilfe in Anspruch nehmen sollte.”

Die Blamage der Ermittler

Seit mehr als einem halben Jahr fahnden die Ermittler jetzt ergebnislos. Als sich am 28. Juni 2022 eine deutsche „Hacktivistin“ namens „Nella“ bei Kellermayr meldet, werden die polizeilichen Ermittlungen zur Blamage. Nella hat den Fall „Kellermayr“ zufällig in ihrer Timeline entdeckt und nach kurzer Suche nach „Claas“ im Netz einen Tatverdächtigen gefunden. Nella wundert sich über die Hilflosigkeit der österreichischen Ermittler: „Also keine Ahnung was das soll aber DAS hätte man durchaus durchziehen können & ich sitze gerade mal 2 h dran“. Im Gegensatz zur deutschen Aktivistin ziehen Staatsanwalt und Polizei in Oberösterreich nichts durch. Sie sitzen es aus.

Polizei und Staatsanwaltschaft versuchen sich zu rechtfertigen. Der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Wels meldet sich: “Die Hackerin hat online und im Darknet recherchiert (…) und daraus ihre Rückschlüsse gezogen”, aber das sei “nicht, wie die Polizei ermittelt. Das darf sie auch nicht.” Kurz darauf distanziert er sich von seinen eigenen Äußerungen.

“Der Standard” fasst die missliche Lage der polizeilichen Ermittler zusammen: „Während „Nella“ öffentlich gefeiert wird und ihre Followerzahlen auf Twitter explodieren, stehen die Behörden mit heruntergelassenen Hosen da.“

Das Ende

„ORDINATION BIS AUF WEITERES GESCHLOSSEN“. Über Twitter informiert Kellermayr am 27. Juni 2022, dass es nicht mehr weitergeht. „Bis heute habe ich mehr als 100.000 Euro in die Sicherheit des Ordinationsbetriebs gesteckt um garantieren zu können, dass sich niemand der hier Hilfe sucht in Gefahr begeben muss. Das hat nun ein vorläufiges Ende. Ich habe alles getan um dafür Unterstützung zu bekommen aber es hat nicht gereicht.“

Kellermayr will wieder aufsperren. Dazu braucht sie Geld und Schutz, damit ihre drei Mitarbeiterinnen mit ihr weitermachen können. Aber dafür ist es zu spät. Am 13. Juli 2022 berichtet sie im privaten Kreis, dass sich zwei ihrer Mitarbeiterinnen nach einem klärenden Gespräch gegen die Weiterarbeit in der Ordination entschieden hätten. Für sie waren Unsicherheit und Angst zu groß geworden.

Kellermayr erzählt alles ihrer Anwältin. Jetzt braucht die Ärztin selbst Hilfe.

Kammer-Maulkorb

Einmal kommt noch die Ärztekammer ins Spiel. „Manchmal ist es besser, man zieht sich zurück“. Als Präsident der oberösterreichischen Ärztekammer gab Peter Niedermoser der Ärztin noch vor wenigen Wochen diesen Rat. Kurz nach ihrem Tod weiß er: “Diese menschliche Tragödie ist auch ein unglaubliches Beispiel, wie weit unkontrollierter Hass im Netz gehen kann”. Die Oberösterreichischen Nachrichten zitieren ihn: „Mit der verstorbenen Ärztin habe man erst vergangene Woche einen „Hilfsplan“ für den Fortbestand ihrer Ordination besprochen und dafür einen Rechtsanwalt beauftragt.“

Doch das scheint bloß die halbe Wahrheit zu sein. Am 21. Juli 2022 spricht Kellermayr einer Freundin auf die Sprachbox: „Der Termin bei der Ärztekammer heute war Scheiße, ganz große Scheiße. Also, was sie tun würden, ist, dass sie die Kosten für den Rechtsanwalt übernehmen, der einmal eine Vermögensaufstellung mit mir macht. Aber selbst das ist an die Bedingung geknüpft, dass ich einen Maulkorberlass unterschreibe.“

“Help Dr. Lisa”

Im Juli 2022 ist Kellermayr nicht allein. Rund um sie hat sich ein Kreis gebildet, der sie auffangen und unterstützen will. Der Verein „Help Dr. Lisa“ steht kurz vor der Gründung. „Wir machen es uns zum Ziel, die Dr. Kellermayr in Folge der massiven und belegbaren Bedrohungslage entstandenen Kosten mittels Crowdfunding zu ersetzen, um die Weiterführung ihrer Praxis zu ermöglichen.“ Das steht in der Präambel des Vereins, den ihre Unterstützerinnen und Unterstützer gerade gründen. Doch das Crowdfunding kommt zu spät.

Das Wochenende vom 16. auf den 17. Juli verbringt eine Freundin gemeinsam mit Kellermayr in der Praxis. Sie erinnert sich, wie Kellermayr sie fragt: Wie soll ich das machen, ich hätte nicht mal die Kraft, die Stelle auszuschreiben, geschweige denn, Bewerbungsgespräche zu führen.“ Sie weiß, dass der Verein gegründet wird und das Crowdfunding vor dem Start steht. Aber jetzt fehlt die letzte Kraft.

Am 23. Juli 2022 freut sich Kellermayr noch einmal über einen einfühlsamen Bericht im “Standard”. Oliver Das Gupta kündigt da an: In dieser Folge von “Inside Austria” rekonstruieren wir, wie Kellermayrs Leben durch monatelange Morddrohungen aus den Fugen geriet. Wir blicken auf den fragwürdigen Umgang der Behörden und sprechen mit jener Frau, der es gelang, den mutmaßlichen Täter zu identifizieren. Und wir fragen, wieso Opfer von rechter Bedrohung im Netz so oft alleingelassen werden.“

Am 28. Juli 2022 berichtet Kellermayr einer Freundin in einem der letzten Telefonate von einem weiteren Termin, der auf Wunsch der Ärztekammer zustande gekommen sei. Der Termin sei „desaströs“ gewesen und sie glaube nicht mehr, dass rechtzeitig genug Geld gesammelt werden könne. Einen Tag später nimmt sie sich das Leben.

Im Stich gelassen

Wenn Menschen bedroht und angegriffen werden, brauchen sie Schutz. Wenn Angreifer aus der Anonymität ankündigen, wie sie sich unter die Patienten mischen und dann zuschlagen werden, und wenn die Demos der Hasser bereits Krankenhäuser bedrohen, bleibt das auf die Hausärztin in der Praxis in Seewalchen nicht ohne Auswirkungen. Kellermayr suchte den Schutz an den richtigen Stellen, bei der oberösterreichischen Polizei und bei ihrer Berufsvertretung, der Ärztekammer.

Aber beide machten ihr klar, dass sie selbst mit schuld sei. Beide hatten für sie einen guten Rat: dass sie den Mund hält. Dr. Lisa-Maria Kellermayr störte die Ruhe. Für Polizei und Kammer scheint es nicht selbstverständlich, dass eine Ärztin im Kampf gegen die Pandemie auch vor den Türen ihrer Praxis hörbar wird. Kellermayr wusste, dass das Gesundheitspersonal in Spitälern und Ordinationen nur dann eine Chance hat, wenn sich etwas im Gesundheitssystem ändert. Veränderungen brauchen am Beginn laute Stimmen, die mit guten Gründen etwas Besseres fordern. In Zeiten des Hasses brauchen laute Stimmen Schutz. Genau den haben Polizei und Kammer der oberösterreichischen Landärztin in den entscheidenden Momenten nicht geboten. Sie haben sie allein und damit im Stich gelassen.

Wohl auch für Kellermayr ist die wichtigste Entscheidung nicht von Polizei oder Kammer getroffen worden. Das Aufgeben der Impfpflicht, die Aufhebung der Quarantäne und das neue Prinzip, dass ansteckende Personen ins Büro und ins Gasthaus gehen dürfen, waren klare Signale der politischen Spitze. Gräben zu Schwurblern und Hassern wurden zugeschüttet. Plötzlich standen Gesundheitsexpertinnen und Ärztinnen wie Lisa-Maria Kellermayr selbst vor neuen Gräben, die sie von Gesundheitsminister und Kanzler trennten.

Danach

„Gestern Nacht hat eine engagierte Frau entschieden, nicht mehr weiterleben zu wollen.“ So beginnt ein Nachruf des Bundespräsidenten. Vieles von dem, was er darin auf Twitter schreibt, ist gut und wichtig. Nur eines stimmt nicht: Lisa-Maria Kellermayr wollte weiterleben. Aber sie konnte nicht mehr.

Es hätte auch anders ausgehen können, mit Schutz, Hilfe und der Chance auf einen neuen Start. Wenn Schutzsysteme versagen, müssen sie untersucht und verbessert werden, von der Polizei bis zur Ärztekammer. Der Hass hört nicht von selbst auf. Aber Ärztinnen und Pflegerinnen sollen sich in Zukunft darauf verlassen können, dass nicht die falschen Gräben zugeschüttet werden.

Hinweis

In Österreich gibt es zahlreiche, kostenlose Einrichtungen und Telefonnummern, die bei Suizidgedanken und in Krisensituationen ihre Hilfe anbieten:

Telefonseelsorge: 142 (Notruf) rund um die Uhr erreichbar

Kriseninterventionszentrum: 01/406 95 95 Mo-Fr von 10-17 Uhr erreichbar

Rat auf Draht: 147 rund um die Uhr für Kinder und Jugendliche erreichbar

Psychosozialer Dienst (PSD) Wien: 0/ 31330 rund um die Uhr erreichbar

Männernotruf: 0800 246 247 rund um die Uhr erreichbar

Frauenhelpline: 0800 222 555 rund um die Uhr erreichbar

Titelbild: APA Picturedesk

Autor

  • Peter Pilz

    Peter Pilz ist Herausgeber von ZackZack.

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