Donnerstag, April 25, 2024

Experten: Corona-Neuinfektionszahlen kein verlässlicher Maßstab mehr

Experten:

Seit Beginn der Corona-Pandemie sind vor allem die Neuinfektionszahlen im Fokus der Öffentlichkeit gestanden. Laut Experten eignen sich diese allerdings immer weniger dafür, den Verlauf der Pandemie zu beurteilen.

Wien, 19. August 2022 | Täglich werden die Corona-Neuinfektionen in Österreich öffentlich gemeldet. Am 17. August waren es 7.953, Tendenz der Sieben-Tage-Inzidenz seit Mitte Juli sinkend. Mit dem tatsächlichen Infektionsgeschehen in der österreichischen Bevölkerung haben diese Zahlen laut Experten aber immer weniger tun. „Leider Gottes begeben wir uns jetzt mehr und mehr in eine Phase des Blindflugs“, stellt Infektiologe und GECKO-Mitglied Herwig Kollaritsch gegenüber ZackZack fest. Die Prognosen für den weiteren Verlauf der Pandemie, die in den vergangenen Monaten sehr genau gewesen waren, ließen sich damit immer schwieriger erstellen.

Simulationsforscher Peter Klimek bestätigt das auf Nachfrage: „Die Neuinfektionszahlen als Basis für Berechnungen sind immer weniger solide und robust.“ Und auch Mikrobiologe Norbert Kreuzinger von der TU Wien stellt gegenüber ZackZack fest: „Die Inzidenz ist per se immer als Platin-Standard gesehen worden, als absolut wahre Zahl, und das ist sie nicht.“

Simulations-Forscher verlassen sich auf Spitalszahlen

Für die Modellrechnungen von Klimek und seinen Kollegen spielen die offiziellen Neuinfektionszahlen nur eine untergeordnete Rolle. Nach wie vor modellieren sie auch den Verlauf der Infektionszahlen. Aber sie wissen, dass diese „nur noch sehr wenig zu tun haben mit dem, was dann tatsächlich gemeldet werden wird.“ Daher erstellen sie ihre Prognosen nicht mehr laufend.

Denn derzeit wird einerseits aufgrund der jüngst geänderten Maßnahmen weniger getestet. Andererseits, so Klimek, ist der gemeldete Wert sehr abhängig von der Testmotivation – etwa in der Urlaubssaison, wenn diese eventuell abnehme, damit Reisepläne nicht ins Wasser fallen. Für Klimek und seine Kollegen sind aktuell die Spitalsbelegungszahlen die solidesten Werte für ihre Berechnungen. Derzeit würde evaluiert, inwieweit Abwasserwerte für die Modellrechnungen hilfreich sein können. Sie gäben wichtige Hinweise, etwa auf neue Varianten oder eine Trendwende im Pandemie-Verlauf.

„Abwasserdaten lügen nicht“, haben aber ihre Grenzen

Wer die Pandemie-Verlaufskurve der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) und jene aus dem Abwasser-Monitoring vergleicht, stellt fest, dass sich die Kurvenverläufe decken. Allerdings: In den Abwasserdaten schlägt sich das Infektionsgeschehen schon einige Tage vor den Daten aus Testungen nieder und der Ausschlag der Kurven unterscheidet sich. „Ich halte die Abwasser-Epidemiologie gegenüber den sündteuren Corona-Individualtests bei Symptomlosen für weit überlegen“, sagt der Mikrobiologe Heribert Insam von der Uni Innsbruck gegenüber ZackZack. Es sei offensichtlich, dass es bei den Tests eine „riesige Dunkelziffer“ gebe, so Insam.

Insam hat zusammen mit seinem Kollegen Norbert Kreuzinger von der TU Wien das Abwassermonitoring in der Pandemie federführend aufgebaut. Auf das erste Forschungsprojekt „Coron-A“, das von Landwirtschafts- und Bildungsministerium finanziert wurde, folgte das sogenannte „Schulstandortmonitoring“, welches von Ex-Bildungsminister Heinz Faßmann initiiert wurde. Dieses läuft aber mit August aus. Mitte Jänner 2022 startete außerdem das nationale Abwasser-Monitoring, das die 24 größten Kläranlagen des Landes und damit rund 52 Prozent der Bevölkerung abdeckt. Unter der Leitung von Richard Scheithauer von der Medizinischen Universität Innsbruck soll es vorerst vier Jahre laufen.

„Die Abwasserdaten lügen nicht“, so Insam. Er hielte es für sinnvoll, dann mehr zu testen, wenn das Abwasser ein hohes Signal an Erregern zeigt. Absolute Zahlen ließen sich nämlich nicht aus den Abwasserdaten bestimmen, da verschiedene Virusvarianten unterschiedlich starke Ausscheidungen verursachen.

Aber auch dem Abwasser-Monitoring sind Grenzen gesetzt, wie Norbert Kreuzinger meint. Sind zu Beginn der Pandemie die Menschen primär in der Umgebung ihres Wohnortes beziehungsweise in Österreich geblieben, ist mittlerweile die Reise-Aktivität wieder gestiegen. In den hiesigen Abwasserdaten scheinen daher beispielsweise vermehrt auch Infektionen von Touristen und Pendlern auf.

Viele Länder führen Abwasser-Monitoring fort

Mit dem Bevorstehenden Auslaufen des Schulstandort-Monitorings stellte sich schon vor dem Sommer die Frage, wie es weitergeht. „Dieses Monitoring liefert einen breitflächigen Überblick über das Fallgeschehen und die Variantenlage in Österreich“, heißt es gegenüber ZackZack aus dem Gesundheitsministerium zum nationalen Projekt.

Kreuzinger sagt, es eignet sich für diese ganz konkrete Fragestellung, denn die ausgewählten Kläranlagen deckten Ballungsräume ab. Aussagen zu einzelnen Regionen auf Landesebene ließen sich dadurch nicht treffen. Zum Vergleich: Für das Schulstandortmonitoring hat man auf Proben aus rund 110 Kläranlagen gesetzt. Laut Heribert Insam wurden damit etwa 70 Prozent der Bevölkerung abgedeckt, jeder Bezirk ist mindestens einmal vertreten. Wien sei beispielsweise zu 100 Prozent abgedeckt, in den anderen Bundesländern gebe es hingegen teils viele sehr kleine Anlagen, da könne man nicht von jeder Proben holen.

Mittlerweile steht fest: Die meisten Länder werden zukünftig ergänzend zum nationalen Projekt auf ein eigenes Monitoring setzen. In Wien wird sich nichts ändern. Schon während des Schulstandortmonitorings hat Wien unabhängig davon die Hauptkläranlage, in der alles zusammenfließt, drei Mal pro Woche beprobt und ein Mal pro Woche die Zulauf-Kanäle.

Und die anderen Bundesländer?

Auch in Kärnten bleibt alles, wie gehabt: Die elf bisher beprobten Kläranlagen werden weiterhin genützt, die Analyse erfolgt über das Institut für Lebensmitteluntersuchung, Veterinärmedizin und Umwelt (ILV). Tirol hat bereits 2020 ebenfalls ein umfassendes Monitoring auf Landesebene installiert, welches auch das Schulstandortmonitoring mit Daten versorgte, und wird dieses aufrechterhalten. Oberösterreich hat bereits Anfang Juli 2022 ein eigenes Abwassermonitoring mit zehn Anlagen gestartet und wird dieses ab September auf 26 ausbauen. Salzburg analysiert ebenfalls auf Landesebene das Abwasser und wird das weiterhin tun. Die Steiermark ist mit drei großen Kläranlagen im nationalen Monitoring vertreten und wird nach Rücksprache mit Experten kein eigenes Monitoring durchführen, da nicht wesentlich mehr Erkenntnisse zu erwarten seien, hieß es gegenüber ZackZack. In Vorarlberg ist ein Monitoring auf Landesebene geplant. Es bleibt bei den drei bisher beprobten Kläranlagen in Bregenz, Meiningen und Ludesch, die Ausschreibung für das Monitoring läuft gerade. Niederösterreich will das Abwasser auf Landesebene überwachen, aber wie genau das aussehen wird, wird derzeit noch erörtert.

Von der Krisen- zur Routine-Struktur

Simulationsforscher Klimek plädiert im Hinblick auf den Herbst und den weiteren Pandemie-Verlauf dafür, ein verlässliches System aufzubauen, mit dem man das Infektionsgeschehen beobachten kann. „Wir bauen gerade die Krisenstrukturen alle ab. Das ist prinzipiell nichts Schlechtes, aber problematisch wird es, wenn wir die jetzt nicht mit irgendwelchen Routinestrukturen ersetzen, die funktionieren.“ Ansonsten könne man den richtigen Moment verpassen zu reagieren, wenn die Pandemie sich wieder in eine neue Richtung entwickelt, warnt Klimek sinngemäß. Die Daten – etwa zu Spitalsbelegungen – müssten außerdem von überall nach demselben Muster eingemeldet werden, um vergleichbar zu sein. Das sei auch hinsichtlich anderer schwerer Atemwegsinfekte sinnvoll.

Insam und Kreuzinger unterstützen die Forderung, langfristige Beobachtungsstrukturen zu schaffen. Die beiden Mikrobiologen sind der Ansicht, dass das Abwasser-Monitoring über die Pandemie hinaus ein wichtiges Werkzeug sein könnte, das Abwasser auf Krankheitserreger – Viren wie Bakterien – zu scannen, um im Ernstfall rechtzeitig und gezielt reagieren zu können. Die Infrastruktur dafür – Dashboard, Datenbank und Proben-Archiv – steht nun jedenfalls. Zur Lage-Einschätzung für die Pandemie ist laut den drei Experten jedenfalls nötig, mehrere Faktoren zu berücksichtigen, denn die einzelnen für sich seien nicht repräsentativ: „Je mehr Parameter ich habe, die ich für die Beurteilung heranziehe, desto breiter ist mein Blick auf das Thema“, drückt Kreuzinger es aus.

(pma)

Titelbild: ALEX HALADA / AFP / picturedesk.com

Pia Miller-Aichholz
Pia Miller-Aichholz
Hat sich daran gewöhnt, unangenehme Fragen zu stellen, und bemüht sich, es zumindest höflich zu tun. Diskutiert gerne – off- und online. Optimistische Realistin, Feministin und Fan der Redaktions-Naschlade. @PiaMillerAich
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9 Kommentare

  1. Die Argumente die hier gebracht werden sind dieselben mit denen viele Verschwörungstheoretiker die Corona-Maßnahmen abgelehnt hatten. Vielleicht wäre ein Dialog doch besser gewesen als die Menschenhatz die viele Medien veranstaltet haben. Hätte der gesamten Bevölkerung viel Leid erspart!

  2. Geil! Wir konnten zwar jeden Berufstätigen dreimal die Woche testen aber jede Kläranlage dreimal die Woche zu testen ist zu viel Aufwand. Es wird immer skurriler.

  3. Die Voraussagen der Modellierer haben von Anfang an nie gestimmt. Die von Klimek nicht, er hat selber oft beklagt, dass er nicht über die nötigen Grundlagendaten verfüge, trotzdem hat er Voraussagen gemacht, es komme bald “keine Welle, sondern eine Wand”, haha, gekommen ist nichts, noch weniger treffend die Vorhersagen von Meister Popper, wenn es bei dem dann nicht gestimmt hat, war das unvorhersehbare Wetter die Ursache usw.. Es ist Kaberett vom Feinsten mit diesen Herren. Leider kostet es etwas zuviel.

  4. “Laut Experten eignen sich diese allerdings immer weniger dafür …” ist es aber der Nachweis, das die Wiederinfizierten (Neuinfektion ist das keine) sich teils mehrmals Injektionen gegen Corona “holten.”?

  5. Anfang des Jahres hieß es seitens mancher Expert(inn)en, in Zukunft gäbe es nurmehr geimpft, genesen oder gestorben.

  6. Die Prognosen für den weiteren Verlauf der Pandemie, die in den vergangenen Monaten sehr genau gewesen waren……
    Bitte, wann waren die je genau geehrte Experten!

    • 70000 Neuinfektionen pro Tag sind prognostiziert worden, für die Sommerwelle.
      Simulations-Forscher und Experten mögen gutes Geld verdient haben, aber irgendwann ist aber mal Schluss.
      Abgesehen davon, halte ich Experten oder Expertinnen die jetzt noch von einer Pandemie sprechen, nicht für sehr seriös.

      Für immer Gewaltfrei

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