Im Herbst droht Hunderttausenden Menschen der Absturz in die Energie-Armut. Zur gleichen Zeit droht der ÖVP der Absturz in Tirol. Damit rückt der Zeitpunkt näher, an dem eine völlig ausgemergelte ÖVP das tut, wozu die Kräfte gerade noch reichen: Sie macht mit den Grünen Schluss.
Wien, 28. August 2022
Inzwischen wissen auch die Grünen, dass es drei Regeln für Regierungen mit der ÖVP gibt:
- Die Politik der Regierung hat zwei Farben, tiefschwarz dort, wo es um Wirtschaft, Markt und Verteilung, tiefblau dort, wo es um Ausländer geht.
- Grundlage ist das „Drei Alles“-Bekenntnis: Der Markt heilt alles, parteinahe Unternehmer bekommen alles und Familienmitglieder der Volkspartei dürfen alles.
- Wenn sich die Regierungsparteien uneinig sind, steht der ÖVP die Entscheidung und dem Koalitionspartner eine Presseaussendung zu.
Kalte Zimmer
Wer sich mit der ÖVP einlässt, sollte wissen, dass der Kopf der ÖVP aus einem weltlichen und einem geistlichen Teil besteht. Im profanen Teil geht es um die Annahme und Verteilung von Geschenken und um Parteibücher. Im sakralen Teil geht es um den Glauben an den Markt. In der Praxis führt das derzeit ins kalte Kinderzimmer. Das geht so:
- Der russische Überfall auf die Ukraine hat Öl- und Gaslieferungen verknappt und verteuert. Diesen Effekt kann man noch mit „Markt“ erklären.
- Gas- und Ölspekulanten in der EU nützen die Knappheit, um ihrerseits gewaltige Margen auf die Energiepreise draufzuschlagen. Die Knappheit ist die Stunde der Spekulanten und der Politiker, die jetzt mit dem zweiten Teil der Markt-Botschaft auftreten: Der Markt sei nicht nur allheilend, sondern auch allmächtig. Man dürfe sich ihm nicht entgegenstellen.
- Das hören die Manager des österreichischen Stromkonzerns. Aber ihr Kraftstoff, aus dem sie Strom herstellen, ist nicht russisches Gas, sondern österreichisches Wasser. Sie haben jetzt zwei Möglichkeiten: Sie können Karl Nehammer erklären lassen, dass er mit Putin einen neuen Wasserpreis ausgehandelt habe. Sie können aber auch die Markt-Mullahs rufen.
- Die Markt-Mullahs erklären den Gläubigen, dass das nicht anders gehe, weil der Markt hier nach der „Merit Order“ funktioniere. Das letzte und teuerste Kraftwerk bestimmt den Preis. Es ist das einzige, das mit russischem Gas betrieben wird.
- Würde der Milchmarkt so funktionieren, könnte ein einziger unwirtschaftlich produzierender Bauer den Milchpreis auf fünf Euro hochtreiben. Aber es geht nicht um Milch, sondern um Wasser.
- Der Verbund-Konzern kassiert so Milliardenprofite, und seine Vorstände genehmigen sich einen Glaubens-Bonus in Millionenhöhe.
- Jetzt tritt die grüne Energieministerin auf. Alle erwarten eine doppelte Botschaft: Wir drosseln den Energieverbrauch über Raumtemperaturen, Tempolimits und andere Maßnahmen. Und wir holen uns die Übergewinne der Energiekonzerne, deckeln die Preise und verhindern damit, dass Hunderttausende Menschen im Winter in Energiearmut abstürzen.
- Aber die Grünen bleiben der ÖVP treu und finden eine „Marktlösung“: Das stillgelegte Kohlekraftwerk Mellach soll umgerüstet und wieder ans Netz genommen werden. Das kostet mehr als hundert Millionen Euro.
- Mit Mullah-Zitaten erklären die Verbund-Chefs, dass das nicht aus der eigenen, übervollen Tasche bezahlt werden dürfe. Das Glaubensbekenntnis lässt auch hier nur eine Rechnungsadresse zu: den Steuerzahler.
- Weil sich die Opposition im Nationalrat nicht den Mullahs beugt, erklärt die grüne Klubobfrau, dass jetzt eine Kinderzimmer-Kältewelle drohe. Alle wissen, dass das neue Mellach erst in einem Jahr in Betrieb gehen kann. Aber Maurer zieht das Mellach-Kinderzimmer-Erkalten um ein Jahr vor. Sie weiß, dass der Glaube nicht nur Berge, sondern auch Zeitpunkte versetzen kann.
Die Kraft der Politik
Jenseits der Priester des Neoliberalismus wissen nicht nur ernsthafte Ökonomen: An die selbstheilenden Kräfte des Marktes zu glauben ist in etwa so sinnvoll wie der Glaube an die Wiedergeburt des Backhendls. Der französische Verteilungsforscher Thomas Piketty hat eindrucksvoll belegt, dass ein enger Zusammenhang zwischen erfolgreichen Staatseingriffen in Schlüsselbereiche wie die Energiewirtschaft, hohen Staatsquoten zur Finanzierung von Bildung und sozialer Sicherheit und wirtschaftlichen Blütezeiten besteht. Der Weg in die Krise führt über die Kräfte des Markts. Der Weg aus der Krise führt über die Kraft der Politik.
Dank heimischer Wasserkraft und dank des öffentlichen Eigentums an den wichtigsten Energiekonzernen verfügt die österreichische Regierung am Beginn der Energie-Armutskrise über Instrumente, um die sie alle anderen in der EU beneiden. Bundeskanzler, Wirtschaftsminister und Energieministerin haben alle Mittel, um mit einem einfachen Plan ein großes Problem rechtzeitig zu lösen. Aber für ÖVP und Grüne ist Armutsbekämpfung nur noch eine Randsportart. Das große Spiel wird Konzernen und Spekulanten überlassen. Damit steht der Ausgang fest: Energierechnungen, die immer weniger Menschen bezahlen können.
Vorwärts im Liegestuhl
Genau solche Momente sind die Stunden der Opposition. Altkanzler Christian Kern rechnet seiner Partei schon fast täglich vor, wie die Entfesselung von Energiekonzernen und Spekulanten direkt in Massenarmut führt. Wahrscheinlich ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich auch in Österreich die Opfer gelbe Westen anziehen und auf die Straße gehen. Aber die Hinweise auf die große politische Chance verhallen. Die SPÖ Chefin ist noch immer dabei, den Liegestuhl zum Markenzeichen der sozialdemokratischen Opposition zu machen. Sie und ihr Team haben sich mit Politikschutzfaktor 50 eingerieben und warten in den Parteiliegen die nächsten Umfragen ab.
Die Neos sind Gefangene ihres tiefen Marktglaubens. Also bleiben wieder einmal nur die Grünen. Sie haben alles in der Hand. Aber sie sind mitten in ihrer Mitlaufcrisis. Umgeben von professionellen Schönrednern und ohne ernsthaften Widerstand in der eigenen Partei glaubt ihre Führung noch immer, dass es weitergeht. Doch im Herbst deutet alles auf einen Bruch hin. Wahrscheinlich beginnt er in Tirol.
Wenn Karl Nehammer im kommenden September durch seinen beherzten Wahlkampfeinsatz eine ausreichende Zahl an Stammwählern vertrieben hat, muss sich die Partei schnell entscheiden, zwischen einem Notprogramm für eine große Mehrheit der Menschen oder einem Notausstieg aus der Koalition. Das Notprogramm setzt den Bruch mit dem Parteiglauben voraus. Für den Notausstieg braucht es nur den Bruch mit den Grünen.
Der geht ganz einfach: die Balkanroute schließen, ein paar Kinder abschieben, darüber mit den Grünen streiten, den neuen Mann an der Spitze präsentieren, das Geld für die Regierungsinserate aus dem Budget holen, den Parteijournalisten die Geschichte stecken und dann Schluss machen. Innenminister Karner hat mit seiner Erklärung, dass die Wissenschaft auf der einen und die Fakten auf der anderen Seite stünden, etwas Wichtiges bekräftigt: Die Fakten schafft auch jetzt noch die ÖVP.
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