Nach wesentlichen militärischen Erfolgen der Ukraine in den vergangenen Tagen, verfällt Russland in Drohgebärden. Trotz der Rückschläge denkt der Kreml nicht daran, seine erklärten Ziele aufzugeben. Auch die Ukraine macht keinen Schritt zurück.
Kiew/Moskau, 12. September 2022 | Mit ihrer Gegenoffensive haben ukrainische Streitkräfte am Wochenende Erfolge gefeiert, und im Süden und Osten einige besetzte Gebiete zurückerobert. Sie setzt ihren Vorstoß nun weiter vor. Der Generalstab teilte am Montag in seinem allmorgendlichen Briefing mit, allein am Sonntag seien mehr als 20 von Russland besetzte Orte im Osten des Landes zurückerobert worden.
Im Süden habe man rund 500 Quadratkilometer zurückerobert. Seit Anfang September sollen überhaupt insgesamt 3.000 Quadratkilometer besetzter Gebiete zurückerobert worden sein. Der Kreml hat indes angekündigt, an seinen Zielen festzuhalten und seine Offensive fortzuführen.
Erfolge der Ukraine bestätigt
Es ist immer schwer, Berichte aus Kampfgebieten zu überprüfen. Aber, dass die Ukraine jüngst große militärische Erfolge gefeiert hat, ist mittlerweile bestätigt worden. Das britische Verteidigungsministerium berichtete auf Basis von Geheimdiensterkenntnissen, Russland habe vermutlich den Abzug seiner Truppen aus einem besetzten Gebiet in der Region Charkiw befohlen. Die erfolgreiche Offensive der Ukraine habe wesentliche Auswirkungen auf den Kriegsverlauf, so die Einschätzung des britischen Verteidigungsministeriums.
Witali Gantschew, der von Russland in der betreffenden Region eingesetzte Statthalter, erklärte am Montag im staatlichen russischen Fernsehen ebenfalls, dass ukrainische Streitkräfte einige Siedlungen im Norden der Region zurückerobert hatten. Beim Abzug Tausender Soldaten angesichts der überraschend schnellen Offensive der Ukrainer seien Ausrüstung und Munition zurückgelassen worden, berichtete Montagmorgen auch das Ö1-„Morgenjournal“. “Die Lage wird von Stunde zu Stunde schwieriger”, gab er zu.
Ukraine schöpft neue Hoffnung
Gegenüber den „Financial Times“ sagte der ukrainische Verteidigungsminister Olexej Resnikow, dass die Offensive besser laufe als erwartet. Er verglich sie mit einem Schneeball, der einen Hang hinunterkugle und sah in den Erfolgen ein Zeichen dafür, dass Russland besiegt werden könne.
Gegenüber CNN stellte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj weitere Erfolge für den Winter in Aussicht, vorausgesetzt, die Ukraine würde mehr leistungsstarke Waffen erhalten.
Experte wertet Offensive als Erfolg
Laut Oberst Markus Reisner, Leiter der Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie, ist bei den Russen Chaos und Panik entstanden. Das teilte er der APA gegenüber mit. Er wertet die derzeitige Offensive als militärischen und strategischen Erfolg, nicht zuletzt, weil die Ukraine dem Westen damit gezeigt habe, dass weitere Waffenlieferungen Sinn machen.
Er verwendete im Zusammenhang mit der Lage den englischen Spruch „If you don’t break the momentum, the momentum will break you“, also „Wenn du das Momentum nicht brichst, wird das Momentum dich brechen“. Die Ukrainer hätten die Offensive auf die schwächste Stelle konzentriert und nicht die Eliteeinheiten, sondern die zwangsverpflichteten Einheiten aus dem Donbass angegriffen.
Vergeltungsschläge gegen Infrastruktur
Während des Rückzugs haben russische Truppen wertvolle Infrastruktur zerstört – Vergeltungsschläge, wie Militär-Experte Franz-Stefan Gady vom Institute for International Strategic Studies (IISS) in London im Ö1-„Morgenjournal“ am Montag bestätigte. So hat Russland auf Kraftwerke gefeuert, wodurch großflächig die Strom- und Wasserversorgung in Charkiw und angrenzenden Regionen ausfiel.
Am Montagmorgen hieß es, dass die Versorgung zu 80 Prozent wiederhergestellt worden war. Selenskyj verurteilte die Angriffe auf Twitter: “Keine Militäreinrichtungen. Das Ziel ist es, den Menschen Licht und Wärme zu berauben.“ Militär-Experte Reisner glaubt, dass Russland weiterhin wichtige Infrastruktur angreifen wird.
Russland droht
Russland hat jedenfalls nicht vor, aufzugeben. Am Montag kündigte Kremlsprecher Dmitri Peskow an, Russland wolle seinen Krieg fortführen – mit den „anfangs gesetzten Zielen“. Auf die Frage, ob Wladimir Putin der Militärführung noch vertraue, gab es keine konkrete Antwort. Man will jedenfalls die in den vergangenen Tagen von der Ukraine eroberten Gebiete wieder angreifen.
Indes versucht man, die Ukraine mit Drohgebärden an den Verhandlungstisch zu bewegen. Russlands Ex-Präsident Dmitri Medwedew hat der Ukraine gedroht, Russland würde eine bedingungslose Kapitulation fordern, falls Kiew die derzeitigen Bedingungen für Verhandlungen nicht akzeptiere. “Die jetzigen “Ultimaten” sind ein Kinderspiel im Vergleich zu den Forderungen in der Zukunft”, schrieb er am Montag auf seinem Telegram-Kanal. Selenskyj hatte in einem am Sonntag ausgestrahlten CNN-Interview gesagt, er wolle derzeit nicht mit Russland verhandeln.
USA machen leichten Druck für deutsche Waffenlieferungen
Vor dem Hintergrund der ukrainischen Erfolge ist in Deutschland wieder die Debatte um Waffenlieferungen an die Ukraine losgetreten. Die Grünen, CSU/CDU und die FDP sind für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Die Kanzlerpartei SPD schließt Waffenlieferungen zwar nicht aus, möchte aber keinen deutschen Alleingang starten.
Leichter Druck kommt indessen von den USA: Die US-Botschafterin in Deutschland sagte Amy Gutmann sagte am Sonntagabend im ZDF, sie bewundere, was die Deutschen in der Ukraine tun, habe aber noch höhere Erwartungen an Deutschland. „Wir hoffen und erwarten, dass Deutschland das auch erfüllen wird“, so Gutmann. Man müsse alles machen, wozu man in der Lage sei.
(pma)
Titelbild: AFP PHOTO / Ukrainian Ministry of Defence