Samstag, Juli 27, 2024

Das Land der verschwundenen Kinder – Skylla & Charybdis

Skylla & Charybdis

Österreich ist eine verwunschene Insel der Seligen geworden. Hinter sieben Schleiern der magischen Nebel verborgen liegt die Tatsache, dass allein innerhalb von sieben Monaten über 5.000 Kinder verschwunden sind.

Julya Rabinowich

Wien, 17. September 2022 | Alles, auf das man nicht gut aufpasst, verschwindet. Die eine Socke von dem schönen bunten Sockenpaar. Der geliebte Kaschmir-Schal während einer langen, ermüdenden Zugreise. Der Ring, den man zum Händewaschen ablegte auf dem Marmorrand des Waschbeckens in einem feinen Restaurant. Die stürmische Sommerliebe, die den Herbst nicht erlebte. Der Dosenöffner beim letzten Campingurlaub. Eine Spielkarte. Ein brauner, vom vielen Kuscheln leicht verformter Teddybär in den Öffis, Bus oder Straßenbahn – man weiß es nicht mehr genau –, vom Kind bitterlich beweint. Andere Kinder beweinen nicht das Stofftier, beweinen vielleicht nicht einmal sich selbst. Denn sie selbst sind das, was verloren gegangen ist.

200 Schulklassen verschwunden

Österreich ist eine verwunschene Insel der Seligen geworden. Hinter sieben Schleiern der magischen Nebel verborgen liegt die Tatsache, dass allein innerhalb von sieben Monaten über 5.000 Kinder verschwunden sind, die als unbegleitete Geflüchtete hier abgekommen waren. Das sind mehr als 200 Schulklassen, hält Lukas Gahleitner-Gertz von der Asylkoordination Österreich fest. Es sind 96 Prozent aller Kinder, die in Österreich einen Asylantrag stellten. In Österreich sind also ungefähr 200 Klassen voller Fluchtwaisen auf magische Art und Weise verschwunden, in Luft aufgelöst. 200 Klassen voll verlorener Kinder, vielleicht weitergezogen, oder vielleicht von Peter Pan hinfort geleitet, vielleicht vom Rattenfänger von Hameln, vielleicht von reichen Adoptier-Willigen, vielleicht von wundersam aufgetauchten Verwandten, vielleicht von Pädophilen, vielleicht von Kinderhändlern. Alles ist möglich! Es interessiert nur irgendwie keinen.

Innenministerielles Schulterzucken

Offenbar auch nicht den Innenminister. Statistiken darüber, wo die verschwundenen Minderjährigen wieder aufgefunden werden, gibt es nicht. Die Minderjährigen leben oft nicht kindgerecht versorgt wie Erwachsene in überfüllten Lagern. Sie sind, ganz wie Peter Pans Gefährten, auf sich allein gestellt. Das Problem ist lange bekannt, das Problem ist aber nach wie vor nicht konkret angegangen worden. Die Asylkoordination Österreich verortet ein Schulterzucken seitens des Innenministers. Vielleicht hofft er auf etwas Feenstaub, um der Gesamtlage mehr Leichtigkeit zu verleihen. Währenddessen tickt die Uhr für neuankommende Fluchtwaisen weiter – leider nicht jene Uhr im Krokodil, sondern eine höchst konkrete und reale. Märchen sind bekanntlich grenzenlos. Menschenleben nicht.

Titelbild: ZackZack

Autor

LESEN SIE AUCH

Liebe Forumsteilnehmer,

Bitte bleiben Sie anderen Teilnehmern gegenüber höflich und posten Sie nur Relevantes zum Thema.

Ihre Kommentare können sonst entfernt werden.

24 Kommentare

24 Kommentare
Meisten Bewertungen
Neueste Älteste
Inline Feedbacks
Zeige alle Kommentare

Jetzt: Die Ergebnisse der Pilnacek-Kommission

Nur so unterstützt du weitere Recherchen!