Samstag, Juli 27, 2024

Van der Bellen: Die Würde der Parteibuchwirtschaft

Mein „Pilz am Sonntag“ erscheint ausnahmsweise schon heute. Der Grund dafür ist das Interview, das Alexander Van der Bellen im ORF gegeben hat. Seine bewusste und gezielte Verharmlosung der ÖVP-Korruption ist für mich mehr als eine politische Enttäuschung.

Peter Pilz

Wien, 08. Oktober 2022 | Eigentlich wollte ich morgen mein Wahlgeheimnis nützen, die paar Meter zur Schule in der Schüttaustraße gehen und dort Alexander Van der Bellen wählen. Dafür hätte ich einige persönliche und einen politischen Grund gehabt. Ich mag seine ruhige, ironische Art und seine Angewohnheit, sich alles genau anzuschauen und sich Urteile so zu bilden, wie er das schon auf der Uni als Professor getan hat. Der politische Grund ist noch einfacher: Er ist der Einzige, der ernsthaft für das Amt kandidiert. Mit einer Stimme für ihn hätte ich einen Bundespräsidenten gewählt, und neben allen Begleitgründen geht es morgen ja darum.

Dazu kommt, dass meine Hoffnung, dass Wlazny/Pogo als zweite Freda Meissner-Blau den Grundstein einer politischen Alternative für die nächste Nationalratswahl legt, nach einigen sympathischen und substanzschwachen Auftritten deutlich geschrumpft ist.

Eine entscheidende Äußerung

Seit seinem Interview mit Susanne Schnabl und Armin Wolf kann ich Van der Bellen nicht mehr wählen. Die kriminelle Parteibuchwirtschaft der ÖVP ist für ihn ein bloßer „Verstoß gegen die Höflichkeit“ und eine „interne Angelegenheit“ der ÖVP. Ich gehe davon aus, dass sich Van der Bellen auf diese erwartbare Frage penibel vorbereitet hat. Ich kenne ihn lange genug und weiß, wie er mit seinen Beratern in solchen Fällen an jedem Wort tüftelt. Da ist ihm nichts herausgerutscht. Da hat Van der Bellen eine Entscheidung getroffen, für die Verharmlosung von Korruption und Parteibuchwirtschaft, gegen sein Versprechen einer sauberen Politik. Der Bundespräsident hält einer Partei, deren Spitzen gerade im größten Sumpf der Nachkriegsgeschichte versinken, eine der letzten Stangen.

Van der Bellen ist gegen freiheitliche Korruption und Parteibuchwirtschaft. Aber was will er von der ÖVP? Mehr Höflichkeit beim Postenschieben? Mehr Würde beim Schmieren? Mehr Tanzschule Elmayer und weniger WKStA?

Glaubwürdigkeit geopfert

Ich befürchte, dass er nur eines will: die Unterstützung von Nehammer, Sobotka und Mikl-Leitner. Dafür scheint er bereit, seine Glaubwürdigkeit zu opfern. Sie war sein größtes Kapital.

Es tut mir persönlich leid, aber ich kann Van der Bellen jetzt nicht mehr wählen.

Ich weiß, dass es auf meine Stimme nicht ankommt. Aber vielleicht sind Stimmen wie die meine für den wiedergewählten Präsidenten Gründe, noch einmal nachzudenken und auch aus diesem Fehler zu lernen. Es war sein bisher größter.

Titelbild: FRANZ NEUMAYR / APA / picturedesk.com

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